An Bertis Hacken: Alles nur eine Frage des Systems
■ Fernsehgucken: Mit den richtigen Tipp-Ritualen gegen spannungsarme Gurkenspiele
Dieser Tage ereignen sich merkwürdige Dinge. Zeitgenossen, die sich normalerweise schon kurz nach der Tagesschau bettgehfertig machen, bleiben bis in die frühen Morgenstunden wach. Andere wiederum, die ansonsten keiner Fliege, geschweige einem Menschen, etwas zu leide tun können, mutieren zu wilden Furien.
Oder anders gesagt: Die Fußball-WM läuft, und es scheint so zu sein, daß die sportlichen Duelle auch außerhalb der Arenen in Form von Wetten fortgesetzt werden.
Man komme jetzt nur nicht mit dem Argument, es werde in erster Linie aus Spaß an der Freud gewettet oder weil man damit schnell die eine oder andere Mark machen könne. Alles Unsinn: eigentliches Ziel dieser Übung ist der symbolische Sieg über den anderen. Deshalb ist jede Wette, wie es der Psychoanalytiker Bergler einmal formuliert hat, eine Art „Intelligenzduell“ und ein korrekt vorhergesagtes Ergebnis Indiz für herausragende Fähigkeiten.
Doch der Weg vom tippenden Niemand zum Wettkönig ist weit, und grob geschätzt gibt es dutzende verschiedener Systeme zur Ermittlung des Siegers. Die einfachste Variante wird beim Schallplatten- und CD-Fachgeschäft Michelle Records praktiziert: die Devise lautet „One man, one vote“. Man hält sich am Gertrudenkirchhof eben nicht mit vermeintlichen Vorrunden-Peanuts wie Bolivien gegen Südkorea oder anderen Kinkerlitzchen auf: nur die Spiele der deutschen Nationalmannschaft werden getippt, wobei derjenige den gesamten Einsatz erhält, der das torgenaue Ergebnis vorhergesagt hat.
Ganz so simpel geht es bei der nach eigenen Angaben „größten WM-Wette aller Zeiten“ der Zeitschriften Cinema und Prinz nicht zu. Mitarbeiter beider Magazine, die an dieser Wette teilnehmen wollen, sollten schon über profunde Kenntnisse in Wahrscheinlichkeits- und Zufallsberechnungen verfügen, denn das Auswertungssystem hat es in sich. Von einem Pünktchen für die richtige Tendenz in einem Vorrundenspiel bis zu möglichen 75 Zählern für den Weltmeister reicht die Skala, was ein bißchen arg kompliziert und zudem statistisch nicht ganz astrein anmutet. „Das mußten wir aus organisatorischen Gründen so machen“, verteidigt Mit-Initiator Bernd Teichmann von Cinema sein Tip-Spiel für Akademiker, räumt aber ein: „Einfach ist was anderes.“
Teichmann kann damit nur das WM-Spiel des St. Pauli-Fanladens gemeint haben. Höchst korrekt kommt jenes daher und kann zweifelsohne als „Mutter aller Tip-Schlachten“ bezeichnt werden. Erst wird die Vorrunde getippt und anschließend, wenn diese beendet ist, die weiteren Paarungen. So gehört sich das, denn wer möchte seine etwaige gewinnbringende Vorhersage schon einem statistisch suspekten System schulden.
Deshalb: Wer tippt, ist bei der WM mit dabei. Und außerdem: jede noch so öde Begegnung wird zwangsläufig zu einem wahren Thriller, wenn der eigene Tip und damit die eigene Kompetenz in Gefahr ist. Was, Saudi-Arabien führt gegen Marokko 2:1? Von wegen spannungsarmes Gurkenspiel Clemens Gerlach
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