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"Das ist Psychoterror"

■ Weil die ambulante Pflege einer schwerkranken Frau "zu teuer" ist, drängt das Sozialamt auf Heimunterbringung

Die Sozialämter versuchen zunehmend, auf Kosten von Pflegebedürftigen zu sparen. „Das Klima verschärft sich“, stellt Jutta Rütter, Mitarbeiterin der Ambulanten Dienste, fest. Einige Bezirksämter versuchten, die Stundensätze zu drücken, andere versuchten, den Umfang der Pflegeeinsätze zu verringern. In einem Fall betreibe das Sozialamt Wilmersdorf aus Kostengründen gar die Heimunterbringung einer an Multipler Sklerose erkrankten Frau.

Sabine Meiser* wird seit drei Jahren von MitarbeiterInnen der Ambulanten Dienste rund um die Uhr in ihrer Wohnung betreut. Die 47jährige, die seit 1974 an der fortschreitenden Muskelschwächekrankheit leidet, kann heute nur noch eine Hand bewegen. Der ärztliche Dienst des Gesundheitsamtes Wilmersdorf hat 1988 die Notwendigkeit einer rund-um-die- Uhr-Pflege festgestellt. Bis zum Oktober 1993 zahlte die Krankenkasse aus Kulanz die Hälfte der Pflegekosten. Als die Zahlungen eingestellt wurden, reagierte das Bezirksamt umgehend.

In einem Schreiben vom 30. November 1993 wurde der schwerkranken Frau erklärt, daß eine ambulante Betreuung mit „unverhältnismäßigen Mehrkosten“ verbunden sei und daher nicht weiter finanziert werden könne. Sabine Meiser wurde aufgefordert, „schnellstmöglich alles Notwendige zu veranlassen, damit ab 1. März 94 Ihre erforderliche Versorung in einer Einrichtung sichergestellt werden kann.“

Sabine Meiser will jedoch auf keinen Fall in ein Heim abgeschoben werden. Die Ungewißheit, der sie seit einem halben Jahr ausgesetzt ist, geht „ihr an die Psyche.“ „Das ist Psychoterror, was die mit mir machen“, sagt sie. Das Sozialamt Wilmersdorf hat jetzt zwar eine auf 17 Stunden reduzierte Tagespflege für ein Jahr bewilligt, Ziel bleibt für Sozialstadträtin Monika Thiemen (SPD) aber nach wie vor die Heimunterbringung. „Wir werden in zwei, drei Monaten weiterhin das Gespräch mit der Betroffenen suchen müssen,“ sagt sie. Der sofortigen Heimunterbringung sei Meiser nur deshalb entgangen, weil ihre Ärztin und der Gesundheitsdienst übereinstimmend feststellten, daß ihr psychischer Zustand bei einer von heute auf morgen erfolgenden Heimunterbringung „nicht zu stabilisieren“ sei.

Sozialstadträtin Thiemen erklärte, es sei ihre „generelle Linie“, bei einer Rund-um-die Uhr-Pflege auf eine stationäre Versorgung zu drängen. Dies sei durch die Rechtssprechung des Bundesverwaltungsgerichtes gedeckt, wonach häusliche Pflege dann „unverhältnismäßig“ sei, wenn sie doppelt so teuer komme wie ein Heimaufenthalt. Eine ambulante 24-Stunden-Pflege koste monatlich 24.000 Mark, eine Heimunterbringung in Meisers Fall 12.000 bis 13.000 Mark.

Ein direkter Preisvergleich sei allerdings unzulässig, argumentiert Jutta Rütter, weil in der Kalkulation der Heime keine Investitionskosten enthalten seien. Ihr sind weitere Fälle bekannt, in denen das Sozialamt willkürlich auf Kosten der Pflegebedürftigen sparen wollte. Einer Hilfeempfängerin aus Tiergarten wurde nach ihrem Umzug nach Steglitz vom dortigen Sozialamt die Zahl der Pflegestunden von neun auf fünf gekürzt. Auch eine Pflegedienstleiterin des Diakonischen Werks bestätigt die unterschiedliche Bewilligungspraxis der Bezirke. „Wenn eine Patientin in Tempelhof 20 Stunden in der Woche bewilligt bekommt, wären es in Neukölln nur sechs.“

Sozialstadträtin Thiemen hat für die 24-Stunden-Pflege noch einen Sparvorschlag parat: in den Nachtstunden müsse in der Regel keine teure Fachkraft anwesend sein. Sie verweist auf den Bezirk Charlottenburg, wo mit den Sozialstationen ein am individuellen Fall orientierter Festpreis angestrebt wird. „Dann müssen die Sozialstationen ihr Personal so einsetzen, daß sie mit dem Preis hinkommen.“ Auch aus Kreuzberg sind derartige Bestrebungen bekannt. Dorothee Winden

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