piwik no script img

Warten auf Werner

Wie sich Castiglione della Pescaia auf den Giro vorbereitete  ■ Von Rüdiger Kind

Vom 22. Mai bis zum 12. Juni 1994 bewegte sich der Giro d'Italia zum 77. Mal wie eine Riesenraupe durch Italien. 3.739 Kilometer legten die Radprofis in 22 Etappen zurück und versetzten die Zuschauer am Rand der Strecke in eine Begeisterung, wie sie bei einem deutschen Radrennen nicht vorstellbar ist. Der Giro, das ist ein nationales Ereignis, übertragen von Kamerateams auf Motorrädern und vom Hubschrauber aus, ein Werbespektakel der Sponsoren und, im radsportbesessenen Italien, natürlich ein Volksfest für die Orte, durch die die Fahrer mit ihren Begleitfahrzeugen kommen.

Rund 150.000 Mark mußten die drei toskanischen Städte Grosseto, Castiglione della Pescaia und Follonica an die Veranstalter des Giro bezahlen, um das Einzelzeitfahren vom 29. Mai austragen zu dürfen. Aber natürlich ist das eine unbedeutende Summe, gemessen am Werbeeffekt für die Region, ausgebuchten Hotels und der Ehre, Gastgeber für die Sportler samt Troß, die „Karawane“, zu sein.

Daß der Badeort Castiglione della Pescaia an der toskanischen Küste auch noch Startort zur 9. Etappe war, bedeutete für die Bevölkerung einen zusätzlichen Anreiz, ihr Städtchen für das große Ereignis auf Hochglanz zu bringen.

Die Durchgangsstraße wurde frisch asphaltiert und markiert, an den Badeanstalten wurde überall gesägt, geklopft und frisch gestrichen, Schaufenster ohne Fahrrad hatten Seltenheitswert. Alles wurde für den Fall getan, daß eine der Fernsehkameras Bilder abseits der Strecke einfangen sollte. Der rührige „Circolo Culturale Filatelico Numismatico“ von Castiglione veranstaltete eine Briefmarkenausstellung zum Thema Fahrrad und gab eine Postkarte mit Sonderstempel heraus; Fußballturnier und Segelregatta anläßlich des Giro sorgten für das sportliche Rahmenprogramm.

Am Vorabend des Zeitfahrens wird der Ort mit Wimpeln und Flaggen geschmückt, munter flattern auch die Fahnen der DDR und der Sowjetunion am Yachthafen. Ist dies das Werk altkommunistischer Seilschaften oder einfach nur mediterrane Unbekümmertheit nach dem Motto: Hauptsache, es ist bunt und flattert? Vielleicht ist es auch die als passend empfundende Begrüßung für den ersten Fahrer, den Leipziger Jürgen Werner aus dem deutschen Team der Telekom. Die Letzten werden die Ersten sein – in Castiglione wird der Spruch Realität. Als Letzter des Gesamtklassements startet Werner am Sonntag als erster in Grosseto, danach gehen im Zweiminutenabstand die weiteren Fahrer an den Start. Über Marina di Grosseto geht die Fahrt auf der kilometerlangen, schnurgeraden Straße mit bis zu 60 km/h durch die große Pineta nach Castiglione. An der engen Kurve am Hafen, wo die Fahrer abbremsen müssen, drängen sich die meisten Tifosi. Alle warten auf Werner. Witze machen die Runde: „Er ist kein Radrennfahrer, er ist Tourist.“ Und wird sich als solcher die Sehenswürdigkeiten am Wegesrand anschauen. Unter den deutschen Zuschauern wird währenddessen spekuliert, ob das Telekom-Team wohl mit den gelben Posträdern unterwegs ist und ob Werner deshalb in der Gesamtwertung über eine Stunde Rückstand auf den Ersten hat, weil er nebenbei Briefe austrägt.

Doch als die ersten Polizei- und Servicefahrzeuge das Nahen Werners ankündigen, weicht das Frotzeln echter Begeisterung. Die Carabinieri, die in Galauniform mit wichtiger Pose die Einhaltung der Absperrungen überwachen und bei der geringsten Übertretung ihre Trillerpfeifen zum Einsatz bringen, die vielen Helfer am Rand der Strecke, die Hobbyfahrer, die die gesperrte Strecke für ihren großen Auftritt vor Publikum benutzen, alle ziehen sich zurück, als Werner hinter dem Polizeimotorrad auf die Brücke einfährt. Er wird mit „Vai, vai, vai!“ angefeuert, und einige Deutsche lassen es sich nicht nehmen, ihn mit enthusiastischen „Werner“-Rufen zur Höchstleistung anzutreiben.

Und tatsächlich, Jürgen Werner kommt in seinem Telekom-Trikot keineswegs briefträgermäßig daher. Eher wie ein Eilbote – kaum ist er da, ist er schon weiter und spurtet zum Intergiro, der Zwischenzeitmessung, gefolgt vom Begleitfahrzeug und einem Krankenwagen. Jetzt geht es Schlag auf Schlag. In kurzen Abständen treffen die Fahrer ein, manche werden vom nächsten schon vor Castiglione überholt. Lelli, der Lokalmatador aus Grosseto, wird besonders bejubelt, genauso wie die Stars, die am Nachmittag vorbeischießen: Bugno, Indurain und der Spitzenreiter und Träger des rosa Trikots, Berzin. Die den Giro veranstaltende Gazetta dello Sport, deren Markenzeichen das rosarote Papier und die starken Sprüche sind, nennt Berzin, den souveränen Gewinner des Zeitfahrens, „die russische Boden-Boden-Rakete“. Als sich am nächsten Tag die Karawane des Giro mit dem großen Medienrummel zur neunten Etappe Richtung Pontedera auf den Weg macht und das über Nacht errichtete „Dorf“ mit den Ständen der Sponsoren – von Lipton Tea bis badedas – wieder abgebaut wird, wehen die sowjetische und die DDR-Flagge nicht mehr über den Werbe-Ikonen der Konsumgesellschaft. Vielleicht wären die radelnden Profis aus dem ehemaligen Ostblock von den Erinnerungen an die Vergangenheit zu sehr aus dem Tritt gebracht worden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen