Barock, Barack und Beton

Dresden, vier Jahre nach dem Anschluß: Vor dem Rathaus suchen Touristen die City / Aber auch Einheimische erkennen ihre Stadt kaum mehr wieder / Stadt-Gespräche im Hinterhof  ■ Aus Dresden Detlef Krell

Oberbürgermeister Herbert Wagner (CDU) spielte links in der Hosentasche und behauptete: „Dresden weiter in guten Händen.“ SPD-Herausforderer Albrecht Leonhardt gab sich mit Schlafzimmerblick als „erste Wahl für unser Dresden“ aus. Roßbergs Ingolf von der FDP versprach breit lächelnd: „Ein Dresdner kämpft für Dresden.“ Norbert Koch meinte wirklich, die Stadt gehöre „in neue Hände“, in seine nämlich und die der „Allianz für Sachsen – Dresden voran“. Der bündnisgrüne Ruhrpottimport Michael Merkel griff sich an den Kopf und fragte: „Wer ist Michael Merkel?“ Aber „Christine“ von der PDS „ist ein guter Name für eine Oberbürgermeisterin“.

Der Kommunalwahlkampf in der sächsischen Landeshauptstadt litt am Überdruß seiner Adressaten. Bunte Pappschilder lauerten an jedem Lichtmast, an jedem Baum, jeder Kreuzung darauf, von WählerInnen gesehen zu werden. Mit Erfolg. Ein älterer Mann arbeitete sich im traditionellen Wohnviertel Pieschen von einem Schild zum nächsten vor. Alle Plakate warben für den DSU-Abtrünnigen und nun „Freien Bürger“ Reinhard Keller, „weil er weiß, was er tut“. Der alte Mann wußte es auch. Er trennte sorgfältig alle Leistenrahmen ab, denn die waren noch brauchbar. Die Pappen stapelte er zu einem Haufen. Nein, nicht wegen Feuerholz. „Der Keller mit seiner Autobahn! Ich bin dagegen, daß die durch unsere Stadt gebaut wird.“

Für magische sieben Jahre werden im Sachsenland die Bürgermeister gewählt. Doch kühne Entwürfe bis in das nächste Jahrtausend, gar Visionen für eine lebenswerte Stadt störten diesen Wahlkampf nicht sehr. Im Kulturzentrum „Riesa efau“ fragten die BesucherInnen nach zwei Stunden artiger Redefolge irritiert ihre Kandidaten, wodurch die sich denn unterschieden. Kulturelles war gefragt, die Baukultur der Stadt zuerst. „Es gibt in dieser Stadt keine echten Bausünden“, meinte Stadtentwicklungsdezernent Roßberg; da nickte Chef Wagner. „Die größten Architekten müssen hier bauen“, deshalb würde der Dezernent einen Städtebaubeirat gründen, wenn es nach ihm ginge. Roßberg hat sich einen Namen gemacht, weil er gegen den Druck forscher Goldgräber ein „Leitbild für die Stadtentwicklung“ durchgesetzt hat. Dresden will sich selbst treu bleiben und wieder ein Organismus werden. Im großen und ganzen. Die Gicht aber steckt im Detail.

Lenin ist weg, die Bunker haben Zukunft

Vor dem Hauptbahnhof wächst eine nachlässig zugeschobene Baugrube allmählich zum Biotop. Ein Bunker-Duo glotzt aus dem Loch heraus auf die Prager Straße, wo Lenin immer als „Bahnhofsvorsteher“ die Reisenden begrüßt hatte. Lenin ist weg, die Bunker haben Zukunft. Sie sind nicht etwa vom Krieg übriggeblieben, sondern das erste Segment eines vierspurigen Autotunnels. Am Anfang waren hier die Bagger am Schwarzbau, später erst kam die Baugenehmigung und noch später das Verkehrskonzept. Allein der Bauzaun kostet seit zwei Jahren täglich 1.000 Mark Miete. Baudezernent Keller („weiß, was er tut“) kündigt an, daß noch in diesem Jahr weitergebaut wird. 150 Millionen Mark soll der Tunnel verschlingen. Das Geld liegt in keinem Haushalt bereit. „Luxus“, findet Sebastian Lewek, der für die Alternative Fraktion im Stadtentwicklungsausschuß sitzt. „Die Röhre hat verheerende Folgen für den Verkehr.“ Keller und Roßberg waren die Wortführer der schärfsten Kontrahenten in der „Tunnelfrage“. Beide sind nach der ersten Wahlrunde als OB-Kandidaten zurückgetreten. Man munkelt, Keller sei schon von Wagner als neuer Superdezernent avisiert: für Bau, Umwelt und Stadtentwicklung.

„Barock und Barack“ bestimmen das Antlitz der Stadt. So sagen die DresdnerInnen. Heute verstellen zwar Kräne den Blick auf die Türme an der Elbe, doch das sarkastische Bild paßt weiterhin. Barock ist geblieben. Zwischen Zwinger, Semperoper und Kathedrale, auf der Brühlschen Terrasse und an der Baustelle der Frauenkirche treten sich staunende Touristen beim Videofilmen auf die Füße; und im Hof des Zwingers scheuchen Wachmänner die Pärchen vom sauber rasierten Rasen. Die Baracken sind immer noch häßlich, nur anders. Größer und haltbarer sind die neuen Designerkästen. Am Rande der Altstadt wächst ein gigantisches „World Trade Center“ in den Himmel. Hundert Schritte vom Zwinger entfernt, vor einer spätbarocken Kirche, bläht sich ein gläsernes Bürohaus zum wichtigsten Gebäude des Viertels auf. An der Prager Straße behauptet sich nun Dresdens „Wall Street“: das Bankenviertel, die mächtigsten Kaufhäuser, ein Bild wie in jeder beliebigen anderen westlichen Großstadt.

Kurz nach dem Fall der Mauer, als Dresden noch zu entdecken war, hatten namhafte Architekten vor der „dritten Zerstörung der Stadt“ gewarnt: Der Bombenhagel vom 13. Februar 1945, dann „großzügiger“ Wiederaufbau, und nun drohte die ungehemmte Bauwut einzuschlagen. Eine Episode ist hier oft erzählt worden, die anekdotisch den Zustand Dresdens beschreibt: Frierende Touristen erkundigten sich vor dem Rathaus, wo denn das Stadtzentrum zu finden sei. Dem „Patienten Dresden“ diagnostizierte der Präsident der Bundesarchitektenkammer, Roland Ostertag, zwar die Neuauflage des berühmten Canaletto- Blickes, aber „davor, dahinter, drumherum wird entstehen, nein, entsteht bereits die deutsche Einheits-Stadt, die Stadt ohne eigene Art, ohne Eigenart, die Welt-, die Allerwelts-Stadt“.

Wohnungen für 7.000 Mark pro Quadratmeter

Managern immerhin scheint sie zu gefallen. Bei einer Umfrage des Münchener ifo-Instituts nach dem attraktivsten Wohnort für deutsche Manager kam Dresden auf Platz drei, hinter München und Paris. 87 Prozent der Käufer von Eigentumswohnungen sind Wahl- Dresdner aus dem Westen. Die Quadratmeterpreise schwanken zwischen 2.588 und 7.671 Mark. Dezernent Keller weiß: „Ein Hauptgrund liegt in der steuerlichen Begünstigung, die für Ossis fast keine Auswirkungen haben.“ Er hat eine gute Idee. Die wohnungsuchenden DresdnerInnen sollen sich doch auf kommunalem Bauland Eigenheime errichten. Als ob Dresden nicht schon genug Siedlungsbrei hätte.

Beste Wohnlagen auf den waldreichen, bis gestern durch Kasernen besetzten Nordhängen fielen an die neu zu bauende Bundesheeresschule und an die Siemens AG. Zweimal eine „Wohltat für Dresden“, rechnet sich OB Wagner an. Im Sanierungsgebiet Äußere Neustadt walzte die Gustav-Epple- GmbH ein ehemals kommunales Wohnhaus nieder, nun klotzt sie dort einen Bürowürfel hin, mit Eigentumswohnungen und vielen Tiefgaragen. Ein „schrittweises Zurückweichen vor dem Druck der Investoren“ muß Detlef Pflugk, Sprecher der Bürgerinitiative „IG Äußere Neustadt“, im Sanierungsgebiet beobachten.

In einem seit Jahren leerstehenden Haus in der Böhmischen Straße 26 diskutierten 4.000 DresdnerInnen zwei Wochen lang „Ansätze alternativer Stadtgestaltung“. Dresdner und Hamburger Initiativen hatten diese „Stadt-Gespräche“ möglich gemacht. Organisatorin Grit Hanneforth wollte den „Versuch“ unternehmen, „eine gemeinsame Sprache zwischen Planungsprofessionen, Bürgern und Verwaltung zu finden, die ein Nachdenken bewirkt“. Deshalb wurde allabendlich im Hinterhof diskutiert, über Kleingenossenschaften und Milieuschutz, Großstadtkinder und regionale Wirtschaftsstrukturen. Zu Gast waren BewohnerInnen der Hamburger Hafenstraße, Soziologen, Architekten und Stadtplaner aus Hamburg und Dresden; und der Ex-Baustadtrat der Alternativen Liste in Kreuzberg, Werner Orlowski, sagte: „Aus Betroffenen, wie sie das Baugesetz nennt, müssen Beteiligte werden.“

Betroffen von der Wohnraumnot ist der Kinderladen „Känguruh“. Am „Stadtgespräch“ beteiligte sich „Känguruh“ als „sanfter Besetzer“ der Böhmischen Straße 26. Das Haus wird nicht wieder hergegeben, es hat neue Fenster bekommen, Licht, Farbe und WC. Die Kinder fühlen sich wohl. Jetzt ist die Stadt am Zug. Neu ist die alternative Baubetreuung für kleinere Wohnprojekte. Bisher gibt es nur in der Äußeren Neustadt Genossenschaften von NachbarInnen, die das versuchen, was Kulturwissenschaftlerin Grit Hanneforth „selbstbestimmtes Gestalten des Lebensumfeldes“ nennt. „Das schafft Geborgenheit, Wurzeln und Liebe zum Stadtteil und zur Stadt.“ Geborgenheit ist es, was die DresdnerInnen in ihrer City am altstädtischen Elbufer vermissen. Dort regiert „die zerstörerische Macht der leeren Räume“. Der das sagt, ist Dresdner Architekt und Mitbegründer des „Entwicklungsforums“, eines Vereins von BürgerInnen, die sich um die Planungs- und Baukultur kümmern, öffentliches Nachdenken fördern gegen die Eile des „Aber jetzt 40 Jahre nachholen!“. Michael Kaiser vergleicht „die Reste großer Dresdner Stadtbaukunst“ mit „Scherben einer zerschlagenen Skulptur, an deren Bruchkanten fremde Splitter aus jüngeren Epochen kleben. Dazwischen wartet noch immer eine riesige Leere, wieder Skulptur, wieder Stadt zu werden.“

World Trade Center statt Plattenbauten

Die Skulptur ist nicht mehr zu reparieren, der Rückzug ins Barock wäre die Ankunft im Disney-Dresden. Architekt Kaiser muß Kritikern gegenüber immer mal wieder klarstellen, daß er kein Baugegner ist. „Fragen müssen wir uns aber, ob die Leute, die hier ans Werk gehen, sich in die Stadt einfühlen oder ob sie sich dagegenstellen, weil sie extravagant sein wollen.“ Bis jetzt sehe er „fast nur negative Beispiele“. Dem Einheitsbau mit der Betonplatte folgt mit geradezu erdrückender Kraft der neueste Schrei aus der Mittelklasse der Baudesigner. Ob die neuen Gebilde dann „Ferdinandhof“ heißen oder „World Trade Center“, die Einheimischen erkennen ihre Stadt bald nicht wieder. Wenn dann auch noch das, was sie kennen, abgerissen werden soll, ist das für Kaiser „moderner Vandalismus“. Statt die Bauten der sechziger und siebziger Jahre unter die Stahlbirne zu nehmen, sollten sie „auf historischem Stadtgrundriß“ umbaut und so „auf die Hinterhöfe“ gedrängt werden. „Man hätte dann wenigstens auf dem Hinterhof noch ein bißchen Geschichte. Das ist auch Ironie, aber warum sollten wir uns die Ironie wegnehmen?“

Ironie provozieren heute eher die welkenden Pappfiguren. Auf der Wilsdruffer Straße, früher die Demonstriermeile für den Ersten Mai, liegen sie herum wie auf einer Mülldeponie. Vier Kandidaten sind für die morgige zweite Wahlrunde übriggeblieben. „Immer eine Nasenlänge voraus“, schwadroniert Spitzenreiter Herbert Wagner über die „Gefahr eines roten Rathauses“. Christine Ostrowski (PDS) ist ihm mit 19,17 Prozent auf den Fersen, Albrecht Leonhardt (SPD) will aufholen, und Norbert Koch (... Voran!“) hat wohl vergessen, seine Kandidatur zurückzuziehen. Ingolf Roßberg hält 12,18 Prozent für ein „herausragendes Ergebnis“ und gibt damit zu, daß er am FDP-Parteibuch schwer zu tragen hat. Noch hofft er auf einen „personellen Wechsel“ im Rathaus. Es sieht verdammt so aus, als ob daraus nichts wird.