: Mehr als „nur ganz kräftig geschimpft“
■ Erstmals wurde ein DDR-Gefängniswärter wegen Mißhandlungen zu Bewährungsstrafe verurteilt / Verfahren könnte eine Prozeßlawine lostreten
Potsdam (taz) – Erstmals seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten wurde gestern ein ehemaliger Bediensteter einer DDR-Strafvollzugsanstalt wegen mehrfacher Mißhandlung von Gefangenen verurteilt. Das Landgericht Potsdam hielt den 53jährigen Kurt-Wedig Voigt für schuldig, von 1968 bis 1980 als Aufseher der Justizvollzugsanstalt Brandenburg in zehn Fällen Gefangene mit einem Schlagstock oder Schlüsselbund geprügelt zu haben.
Mit dem Strafmaß von zwei Jahren auf Bewährung wegen vorsätzlicher Körperverletzung blieb das Gericht allerdings unter dem Antrag der Anklage, die eine Strafe von dreieinhalb Jahren gefordert hatte. Die Verteidigung hatte auf Freispruch plädiert und will jetzt in die Revision gehen.
Der Angeklagte bestritt in den vergangenen elf Verhandlungstagen die gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Er sei lediglich ein strenger Wachmeister gewesen, der nur manchmal „ganz kräftig geschimpft“ habe, meinte Voigt.
Richter Karl-Josef Flücken war sich in seiner Urteilsbegründung sicher, daß Gefangenenmißhandlungen in DDR-Haftanstalten „generell und systematisch“ nicht verfolgt worden seien. Mit Sicherheit könne davon ausgegangen werden, so Flücken, daß „das Unterlassen der Verfolgung auf den Willen der Staats- und Parteiführung“ zurückzuführen sei. Somit könne das „Gesetz über das Ruhen der Verjährung bei SED-Unrechtstaten“ vom März 1993 angewendet werden. Dieses Gesetz sieht vor, daß die Verjährung der Taten bis zum 2. Oktober 1990 geruht hat, da eine Strafverfolgung in der DDR nicht möglich war. Flücken bewertete das Verhalten des Angeklagten als „besonders verwerfliches Versagen mit schwerem Unrechtsgehalt“.
Das Urteil in diesem Pilotverfahren hat für Oberstaatsanwalt Rautenberg Signalwirkung, da allein in Brandenburg über einhundert ähnliche Fälle angeklagt werden sollen.
In den vergangenen Verhandlungstagen hatten Zeugen, die zumeist wegen versuchter Republikflucht in Brandenburg inhaftiert worden waren, berichtet, wie Voigt aus Langeweile oder nichtigen Gründen auf sie eingeschlagen habe. Nur zwei Zeugen gaben an, bei ihrem Betreuer oder dem Anstaltsleiter Anzeige erstattet zu haben. Andere sagten aus, sie hätten „große Angst“ gehabt und daher lieber über die Vorfälle geschwiegen. Keine der beiden Anzeigen wurde an die zuständige Staatswanwaltschaft weitergeleitet.
Staatsanwalt Klaus Deutschländer geht davon aus, daß die Anzeigen von der Stasi, die in den DDR- Haftanstalten mit eigenen Büros vertreten war, abgefangen wurden. Tatsächlich hätten Recherchen im Bundesarchiv kein einziges Ermittlungsverfahren wegen Gefangenenmißhandlung in der DDR zutage gebracht. Lediglich die Mißhandlung polnischer Bürger durch Polizisten sei einmal angeklagt worden.
Rechtsanwalt Bremer hielt in seinem Plädoyer die vernommenen Opfer für nicht glaubwürdig. Die Vorfälle würden zu lange zurückliegen, argumentierte der Verteidiger. Zudem äußerte er massive Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Verjährungsgesetzes. Es sei ein „politisches Gesetz“ und enstpreche nicht den Intentionen des Einigungsvertrages. Anja Sprogies
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen