■ Mister Major, bitte zum Diktat!: Beim EU-Gipfel auf Korfu setzte sich der belgische Ministerpräsident Jean-Luc Dehaene als Nachfolger von Kommissionspräsident Delors durch - im Weg war nur das Veto John Majors. Das aber wiegt schwer: ...
Beim EU-Gipfel auf Korfu setzte sich der belgische Ministerpräsident Jean-Luc Dehaene als Nachfolger von Kommissionspräsident Delors durch – im Weg war nur das Veto John Majors. Das aber wiegt schwer: die EU in der Krise.
Mister Major, bitte zum Diktat!
Der britische Premierminister John Major spielt wieder auf seiner europäischen Lieblingsposition: Allein gegen elf. Auf einem überaus ruppigen Gipfeltreffen der EU-Staats- und Regierungschefs am Wochendende in Korfu lehnte Major den belgischen Premierminister Jean-Luc Dehaene als Nachfolger für Jacques Delors an der Spitze der Europäischen Kommission ab und brachte sich und die Europäische Union in eine äußerst unbequeme Situation.
Auch nachdem der niederländische Ministerpräsident Ruud Lubbers und der britische EU-Kommissar Sir Leon Brittan ihre Kandidatur zurückgezogen hatten und überhaupt kein Gegenkandidat mehr da war, blieb Major hart.
Durch die Art und Weise, wie Deutschland und Frankreich dem übrigen Europa ihren Kandidaten Dehaene aufzwingen wollten, seien Prinzipien des Miteinander verletzt worden, die London für wichtig halte. Außerdem sei Dehaene als Kommissionspräsident für Großbritannien „nicht akzeptabel“. Es sei nicht persönlich gemeint und richte sich auch nicht gegen das freundliche Belgien, meinte Major. Ein Mann mit derart unzeitgemäßen philosophischen Vorstellungen wie Dehaene jedoch sei für das wichtigste europäische Amt einfach ungeeignet.
Es ist ein offenes Geheimnis, daß der belgische Premier trotz seiner konservativen Grundhaltung aus Londoner Sicht zu gewerkschaftsfreundlich, zu wenig marktwirtschaftlich und zu bundesstaatlich gesinnt ist. Daß aber der britische Regierungschef dem belgischen Regierungschef öffentlich die Qualifikation für das Amt des Kommissionspräsidenten abspricht, war die Krönung in einer an häßlichen Fouls reichen Begegnung und führte zum sofortigen Spielabbruch. Zum Jahresende läuft die Amtszeit Delors aus – um die Entscheidung über seine Nachfolge noch rechtzeitig dem Europäischen Parlament vorlegen zu können, wurde für den 15. Juli ein Sondergipfel der Regierungschefs in Brüssel angesetzt. Durch den Vertrag von Maastricht hat das Parlament zum ersten Mal das Recht, den Kommissionspräsidenten zu bestätigen oder abzulehnen und von den Regierungschefs einen neuen Vorschlag zu verlangen.
Major selbst ließ sich nach langem Insistieren britischer Journalisten zu der allgemeinen Bemerkung hinreißen, Dehaene denke zu sehr in Kategorien von „großer Regierung“ und staatlichen Interventionen. Genauer wollte er sich nicht einlassen, doch reichten die Bemerkungen, um die Reihen der anderen Regierungen hinter Dehaene enger zu schließen. Der belgische Außenminister Willi Claes drückte die Stimmung aus: „Wenn jemand glaubt, wir akzeptierten ein Londoner Diktat, dann kann er das vergessen.“
Begonnen hatte die Diskussion unter ganz anderen Vorzeichen. Bundeskanzler Kohl und Staatspräsident Mitterrand mußten sich von einer Reihe von Regierungen den Vorwurf anhören, sie hätten mit ihrer Absprache, gemeinsam Dehaene zu unterstützen, diplomatische Spielregeln verletzt. Der Italienische Außenminister Antonio Martino sprach von einem Bonn-Pariser Diktat. Der niederländische Finanzminister Wim Kok tobte von einem „Gipfel der Unverschämtheit“ und ein hoher holländischer Diplomat legte nach, Kohl und mit ihm Deutschland habe sein wahres Gesicht gezeigt – praktischer Anschauungsunterricht in Sachen EU-Schreierei für die erstmals anwesenden Vertreter der vier Neu-Mitglieder.
Hintergrund der Auseinandersetzung: Seit vielen Monaten galt der niederländische Premierminister Ruud Lubbers als der geeignete Kandidat und schien auch eine Mehrheit der Regierungschefs hinter sich zu haben. London, das die Kandidatur des britischen EU-Kommissars Sir Leon Brittan nur halbherzig unterstützte, hätte Lubbers als überzeugten Marktwirtschaftler und Verfechter einer starken atlantischen Brücke zu Amerika gerne auf Delors Sessel gesehen. Doch dann zogen Kohl und Mitterrand nach ihrem Treffen in Mulhouse vor einigen Wochen plötzlich Dehaene aus dem Hut. Frankreich hegt Vorbehalte gegen Lubbers aus den gleichen Gründen, aus denen London ihn so mag, und Kohl scheint Lubbers nicht verzeihen zu können, daß er die deutsche Einheit mit Mißtrauen verfolgte. Doch während es den meisten Regierungschefs offensichtlich darum ging, Deutschland und Frankreich die gelbe Karte zu zeigen und dann gemeinsam zum Erfolg zu kommen, verrannte sich Major, den Blick eingeengt durch innenpolitische Probleme, wieder einmal in eine Grundsatzposition, die ohne Gesichtsverlust nicht zu räumen ist. Entweder Major knickt ein, oder elf Regierungschefs suchen einen neuen Kandidaten, der auch London gefällt. Alois Berger, Korfu
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