: Das Beste gillettefrei
■ Die "Soccer"-WM spielt sich auch auf der US-Mattscheibe ab - mit richtigen Kommentatoren und fast commercial-frei
San Francisco (taz) – „57 channels and nothin' on“, rechtfertigt sich Bruce Springsteen im gleichnamigen Song dafür, daß er gerade seinen Fernseher erschossen hat. Und tatsächlich, eine willkürliche Stichprobe gegen Mittag ergibt, daß „The Boss“ so unrecht nicht hat. Rund sechs Soap-operas, drei Krimiserien, drei mittelmäßige Spielfilme, ein paar Comics, schlechte Musik und ein tumbes Quiz — 57 channels and nothin' on.
Doch derzeit braucht Mister Springsteen nicht zu verzweifeln. Er kann sich Fußball anschauen, eine Beschäftigung, der tatsächlich mehr Leute als erwartet nachgehen. ABC und der Kabelsender ESPN, die die Weltmeisterschaftsspiele übertragen, sind mit ihren Einschaltquoten durchaus zufrieden. Das Eröffnungsspiel Deutschland – Bolivien sahen 1,4 Millionen Haushalte, fast viermal so viele, wie normalerweise tagsüber ESPN schauen. Zum Vergleich: In Deutschland saßen 20 Millionen vor der Glotze.
Das Match USA – Schweiz auf ABC, dessen Übertragung nachträglich auf 11.30 Uhr morgens vorverlegt wurde, weil dem Network seine Live-Show vom vorletzten Tag der US Open (Ball: Golf, nicht Fuß) wichtiger war, schalteten fast sechs Millionen Haushalte ein. ABC-Sport-Präsident Dennis Swanson: „Eine reine Business-Entscheidung. Unsere Golf-Einschaltquoten werden wesentlich höher sein.“
Obwohl Fußball in den USA in der Popularitätsskala der Amerikaner nur an 95. Stelle liegt und nur 31 Prozent aller Amerikaner überhaupt wissen, wo die WM stattfindet, betreiben die US-Medien fleißig Aufklärungsarbeit. Der Kopf, so schreibt USA today, könne für Passe und Tore verwendet werden: „Der Hals versteift sich, und der Ball wird mit der Stirn getroffen.“ Ganz so genau wollte es die Journaille vor WM-Anpfiff nicht wissen. Da spottete das Blatt, Fußball sei wie Fußpilz.
Aber: „Wir kommen an der WM leider nicht vorbei, auch wenn Umfragen gezeigt haben, daß das Interesse sehr gering ist“, entschuldigte die Los Angeles Times ihre Soccer-Berichte. Denn „Fußball zu hassen ist so amerikanisch wie Apfelstrudel“ (USA today).
Doch der Amerikaner ist so schlecht gar nicht, wie man denkt. Er guckt weit mehr. Allein schon deshalb, weil es beim Fußball weder Auszeiten noch Pausen gibt, die lang genug sind, um Werbung einzuspielen. Kam es bei der letzten WM in Italien 1990 zur der Peinlichkeit, daß TNT im Viertelfinale Italiens einziges Tor gegen Irland wegen Werbung verpaßte, so behelfen sich die Sender nun mit extensiver Werbung vor dem Match, wofür auch gern eine Verzögerung des Anpfiffs in Kauf genommen wird, und in der Halbzeit, geschickt garniert mit kleinen Interviews, mit Highlight-Einspielungen und Zusammenfassungen anderer Spiele, um die Leute vor der Glotze zu halten.
Hat ESPN, das in rund 69 Millionen Haushalten empfangen werden kann, bisher durchschnittlich pro Spiel zwei Millionen Zuschauer angelockt, dürfte die Zahl der Fußballfans angesichts des amerikanischen Erfolges weiter steigen. Während des Matches werden zusammen mit Zeit und Zwischenstand wenigstens kleine Produktlogos eingeblendet, die alle 18 Minuten wechseln und die der Sprecher brav referiert und dabei stets betont, daß die Firmen ihr „Segment des Spieles“ edelmütigerweise „commercial-free“ präsentieren: „Yekini stürmt aufs Tor, er stürmt und stürmt, und dieses Ereignis wird Ihnen ohne Werbespots live von Gillette nahegebracht.“
Die Übertragungen selbst laufen einfach, ohne Mätzchen und visuelle Spielereien, streng auf das Spielgeschehen konzentriert ab. „Jetzt hängt es vom Schiedsrichter ab, wann das Spiel anfängt. Pfeift er nicht, kann es nicht losgehen.“ Als ausgemachte Experten des Fußballs gelten in den USA immer noch die Engländer. So hat jeder der durchaus kundigen amerikanischen Reporter einen englischen Experten, meist emeritierte Trainer oder Spieler, zur Seite, die den Zuschauern die Feinheiten und Finessen des kuriosen Spiels nahebringen sollen. Sie entledigen sich dieser Aufgabe mit solch gebührender Sachlichkeit, daß man sich wünscht, künftig würde auch jedem deutschen Fernsehreporter ein englischer Coach zugewiesen.
Heribert Faßbender mit Jackie Charlton, das wäre ausgesprochen spaßig, fast so wie die Vorstellung, daß sämtliche Zuschauer in den brütenden WM-Stadien dicke Mäntel, Handschuhe und Mützen tragen müßten. So sähe es aus, wenn in der FIFA die Iraner das Sagen hätten, deren Fernsehen bei den WM-Übertragungen jedesmal, wenn das Publikum ins Bild gerät, Leute in Winterkleidung einspielt, um das iranische Volk nicht dem Anblick von verteufelt leicht bekleideten Menschen, womöglich Frauen, auszusetzen. 57 channels and nothin' on. Matti Lieske
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