■ Nach den Präsidentenwahlen in der Ukraine: Zwei Gestrige, zwei Übel
Bei den Präsidentenwahlen am letzten Sonntag lag die Beteiligung der UkrainerInnen mit 68 Prozent weit höher als bei den Wahlen für das Parlament im Frühjahr. Leichter als die Wahl zwischen Parteien fällt eben die zwischen Personen. Umfragen zeigen, daß die Mehrheit der Wähler dabei bewußt zwischen zwei „Übeln“ entscheidet. Der jetzige Präsident Leonid Krawtschuk (60) und sein Hauptrivale Leonid Kutschma (56) sind beide von gestern. Krawtschuk war einst Vorsitzender des Obersten Sowjet des Landes und Kutschma Oberpolitkommissar der berühmten Juschmasch-Raketenwerke in Dnjepropetrowsk, später – schon unter Krawtschuks Präsidentschaft – Ministerpräsident. Jetzt klagen beide, nach drei Jahren ukrainischer Unabhängigkeit, nicht genug Zeit gehabt zu haben.
Bedächtigkeit gilt den Ukrainern allerdings als Tugend, und beide Präsidenten versuchen, sie für sich zu pachten. Der gegenwärtige Präsident hat sich den Ruf eines gleichzeitig schlauen und weichen Taktierers erworben, der vom Westen Kredite einzuheimsen versteht und das Land glücklich in die Europäische Union einfügte. Dabei konnte er noch dem Krim- Konflikt die Schärfe nehmen, ohne Terrain aufzugeben. Leonid Kutschma spielt dagegen die „östliche Karte“ aus und gibt sich als Mann der Produktionspraxis. Der von ihm vertretene militärisch-industrielle Komplex hat sich, wie er selbst, nie vom großen russischen Nachbarn gelöst. Bezeichnenderweise empfängt er als Gesandten Rußlands den Roten Direktor Arkadi Wolski, der zu Hause kaum Wähler fand.
Daß Kutschma dabei auf der Krim und in der russischbesiedelten östlichen Ukraine, Krawtschuk im Westen die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinen konnten, zeigt nur, wie festzementiert die ethnischen Risse im Lande sind. Ein Votum für grundsätzlich verschiedene Entwicklungswege steht nicht dahinter. Die entschiedenste politische Aussage Krawtschuks in diesem Jahr war sein Ukas, der den Bau fünf neuer Atomkraftwerke und die Aufrechterhaltung des Betriebes in Tschernobyl anordnete. Kutschma wiederum wiederholte, daß er im Falle eines Sieges das militärische Produktionspotential der Ukraine um jeden Preis zu bewahren gedenke. Das Comeback des militärisch-industriellen Komplexes und der Atomenergie gehen letztlich Hand in Hand. Was dabei aus dem Land wird, ist schon fast eine Nebenfrage. Barbara Kerneck
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