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Auf der Suche nach dem verlorenen Ton

■ Zeitgenössische Kammermusik in liebevoller (Re-)Konstruktion: Premiere einer CD-Reihe des Ensembles Recherche bei Auvidis Montaigne

Über den Beruf des Musikers herrschen wohl ebenso viele jugendlich-romantisierende Mißverständnisse wie über das Berufsbild des Astronauten. Selbstverständlich kommen reisende Virtuosen weit herum in der Welt, sehen die Städte aller Länder, schicke Hotels, geistreiche Gastgeber, exquisite Buffets. Natürlich hebt in gelungenen Augenblicken die Musik die Schwerkraft auf, läßt die Musiker im strahlenden Glanz des Podiums von allen Fesseln der Materie suspendiert im Klange scheinbar schweben und erlaubt es ihnen, nach vollbrachter Anstrengung im warmen Applaus zu baden. Kurz gesagt können Musiker ihre Neigungen leben, von den Musen umschwärmt, von der Welt bewundert.

Die quälende Dauer der Reisen, die Quarantäne der ewig währenden Proben, das unermüdliche Abarbeiten an gut ausgedachten, aber noch nie praktizierten Spieltechniken, die unvermeidlichen Belebungsversuche von sinnlosen Stücken, die bei Uraufführungen öfter die Regel als die Ausnahme sind, kommen in dem Bild nicht vor – vielleicht ist das besser so, denn wie viele Dinge blieben ungeschehen, wenn man die resultierende Pein schon zu Anfang spüren würde?

Um auf dem zunehmend enger werdenden Markt der ernsten Musik und insbesondere der Neuen Musik seine Haut zu verkaufen, ist für ein Ensemble die virtuose Beherrschung der Instrumente und traumwandlerisch sicheres Zusammenspiel Grundvoraussetzung: notwendig, aber schon lange nicht mehr hinreichend. Nur durch ein unverwechselbares Profil hat ein Ensemble im rauhen Biotop des Kulturmarktes eine Chance — jedenfalls, wenn es nicht die wärmende Obhut einer institutionellen Förderung genießt. Die Existenz im Ungesicherten setzt eine Vielzahl von Tugenden voraus: Können, Flexibilität, einen weiten kulturellen Horizont, Programmideen, vielfältiges Repertoire, Belastbarkeit, Kommunikationsvermögen. Selbst wenn die Erfüllung dieser Anforderungen offenkundig ist, gehörte seitens des Labels Auvidis Montaigne Mut dazu, eine Reihe mit zeitgenössischer Kammermusik in sorgfältigen Aufnahmen, wo möglich, unter der Aufsicht des Komponisten herauszugeben. Daß sich das Risiko lohnt, zeigt die Streichquartettenzyklopädie des Arditti String Quartets, die ihrer zwanzigsten Folge entgegensieht.

Die Reihe „ensemble recherche“ ist nun mit sechs Stücken aus den 70er Jahren von Morton Feldman, in denen sich bereits das Spätwerk ankündigt, eröffnet (Montaigne MO 78 20 18). Außer

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dem sind mit den drei wegbereitenden Trios Helmut Lachenmanns drei wichtige Stücke der 60er Jahre endlich zugänglich (MO 78 20 23).

Das „Streichtrio“ von Helmut Lachenmann ist ein gutes Beispiel für das Schicksal eines Stückes, das durch gründliche Erarbeitung zu einem Eigenleben erweckt werden kann, ein zweites Leben, durch das es selbst vor den einstmals ungnädigen Augen des Komponisten zu bestehen vermag.

Nach der verunglückten Uraufführung im Jahre 1965 durch ein wenig engagiertes Streichtrio wuchs – bis das Trio Recherche dieses Stück für das Repertoire erarbeitete – 25 Jahre Gras über die Sache. Während der Proben zeigte sich dann, daß die in die Partitur hineingeschriebene Qualität durch eine genaue Umsetzung auch wieder herausklingen kann. Zum einen verwendet das Stück Spieltechniken, die nur sehr schwer zum Klingen zu bringen sind, wie zum Beispiel hohe Pizzikato-Flageoletts oder mit dem Bogenholz geschlagene, obertonreiche und dennoch zarte Töne. Zum anderen greifen die drei Stimmen in komplexer Form ineinander und ergeben nur im vollständig aufeinander abgestimmten Zusammenspiel musikalischen Sinn. Da das Tempo gelegentlich sehr rasch ist und die Klänge meist sehr subtil abschattiert sind, ist ein hoher Grad an Virtuosität des Zusammenspiels erforderlich, damit die Komposition nicht in einzelne Klänge zerfällt.

Faßbarer Rest von Gestalten

Solches Zusammenspiel darf nicht ein noch so präzis zusammengesetztes sein, sondern muß, um wie intendiert zu wirken, nahtlos aus einem Guß hervorgebracht werden.

Der Idealfall des Streichtrios ist hier die Verschmelzung zu einem einzigen Instrument – von dem Trio Recherche, das den Streicherkern des Ensembles Recherche bildet, also von Melis Mellinger (Violine), Barbara Maurer (Viola) und Lucas Fels (Violoncello) bisweilen atemberaubend verwirklicht. Die Anforderungen des Zusammenspiels können sehr verschieden sein, selten aber wird eine Virtuosität der Balance in so extremem Maße gefordert wie von Morton Feldman.

Feldmans Stücke reduzieren das musikalische Material auf ein unverzichtbares Minimum. Stefan Wolpe, Feldmans Lehrer, charakterisierte diese Kompositionsweise folgendermaßen: „Es gibt Stücke von Morton Feldman, deren Poesie in einer graduellen Auflösung des tönenden Materials besteht. Er ist interessiert an den dünnsten, eben noch möglichen Oberflächen, an einem in der Distanz gerade noch faßbaren Rest von Gestalten.“ In „The viola in my life (II)“ von 1970 scheint die schmale Grenze zwischen Gerade-noch- und Gerade-nicht-mehr-klingen ausgeschritten zu sein. Um die heiklen Klänge aufscheinen lassen zu können, ist eine ungeheuere Disziplin Voraussetzung, die mit größter Gelassenheit gepaart sein muß, um den einen richtigen Zeitpunkt zu treffen, wo der verschwebende Klang den entstehenden Klang gerade noch mit der Fingerspitze berührt – für Martin Fahlenbock (Flöte), Uwe Möckel (Klarinette), Christian Dierstein (Schlagzeug) und Sven Thomas Kiebler (Klavier) und das Trio Recherche kein Problem.

Wie bei einer Seifenblase, deren unvorstellbar dünne Haut einen enormen Raum umspannt, markieren die hauchzarten Klänge eher die Stille als das Klingende – gerade diese Transparenz läßt die Farben um so irisierender leuchten. Und erst wenn die eine Seifenblase zu nichts geworden ist, bringen die Musiker das nächste Farbengebilde hervor. Prächtig. Frank Hilberg

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