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Die Polizei gerät ins Straucheln

■ Hannovers Polizeiführung geht im Falle des von einem ihrer Beamten erschossenen 16jährigen Kurden von einer "unbeabsichtigten Schußabgabe" aus. Einige Zeugen widersprechen dieser Version.

Hannovers Polizeiführung geht im Falle des von einem ihrer Beamten erschossenen 16jährigen Kurden von einer „unbeabsichtigten Schußabgabe“ aus. Einige Zeugen widersprechen dieser Version.

Die Polizei gerät ins Straucheln

Auf die Gehwegplatten am Steintorplatz ist mit groben Pinselstrichen der Umriß eines Körpers gezeichnet. Blumensträuße liegen am Boden und ein Foto, das das Opfer zeigt, schwarzgelockt, mit weichen Gesichtszügen. „Am 30. 6. 94 wurde Halim Dener ermordet von der Polizei. Er war 16 Jahre“, haben Freunde, die am Tatort trauern, schon am Freitag in großen Druckbuchstaben auf den Gehweg gepinselt. Nicht „Ayhan“, sondern Halim heißt der 16jährige Kurde, der am späten Donnerstag abend in Hannover von einem Zivilpolizisten erschossen wurde. Unter falschen Namen hatte der 16jährige im Mai in der Bundesrepublik Asyl beantragt.

2.000 Kurden und Deutsche versammelten sich am Samstag auf dem zentral gelegenen Steintorplatz, um ihre Trauer und Wut über „Halims Ermordung“ auszudrücken. Von 800 bis 1.000 Demonstranten spricht die hannoversche Polizei. Aber die ist ja in diesem Fall mehr als sonst Partei, geht immer noch von einer „unbeabsichtigten Schußabgabe“ aus. Inzwischen allerdings widersprechen immer mehr Zeugen der Version, wonach sich am Donnerstag bei einem strauchelnden Polizeiobermeister in Zivil versehentlich ein Schuß gelöst hat und unglücklicherweise den fliehenden 16jährigen in den Rücken traf. Im Kern laufen die naturgemäß unvollständigen und nicht in allen Details übereinstimmenden Beoachtungen von vier kurdischen und einem deutschen Zeugen darauf hinaus, daß Halim Dener von hinten auf der Flucht erschossen wurde, daß der 28jährige Zivilbeamte den Jungen, der nur ein paar Plakate geklebt hatte, durch einen Schuß an der Flucht hindern wollte.

Um die jungen Kurden zu treffen, die am Donnerstag Zeugen des Todeschusses wurden, muß man den „deutsch-kurdischen Freunschaftsverein“ aufsuchen. Dieser hat in den Räumen des zusammen mit der PKK verbotenen Kurdischen Kulturvereins seinen Sitz, aber natürlich nichts mit diesem zu tun. „Rein zufällig“ wollen die beiden jungen Männer von 17 und 26 Jahren am Steintorplatz gewesen sein, als dort Plakate der ERNK, der Nationalen Befreiungsfront Kurdistans, geklebt wurden. Aber ihre Namen nennen sie nicht, und bei der Polizei – das ist wohl auch das Hauptproblem bei der Untersuchung des Tathergangs – wollen sie erst recht nicht aussagen, weil sie selbst Strafverfolgung fürchten. Zwei Zeugen im Auftrag des kurdischen Befreiungskampfes aber sind sie sicherlich auch nicht. Zu mitgenommen sind die beiden, streiten sich wort- und gestenreich immer wieder um Details. Darüber, wer wo gestanden hat oder wieviel Zeit zwischen dem ersten Zugriff der beiden Zivilbeamten und dem Schuß denn nun vergangen ist.

Der 26jährige, der Ahmet genannt werden will, war als erster beim Opfer. Er wollte Halim, der ganz blaß und völlig reglos lag, durch Mund-zu-Mund-Beatmung wiederbeleben. „Aber daran hat mich der Beamte gehindert“, sagt er und erzählt dann noch einmal von vorn. Eine Gruppe von wohl sechs jungen Kurden habe am Donnerstag abend am Steintorplatz plakatiert. Als ein Streifenwagen vorbeifuhr, sei man zunächst auseinandergelaufen, schildern es der 17- und der 26jährige gleichlautend. Als das Polizeifahrzeug wieder außer Sichtweite war, hätten zwei aus der Gruppe, unter ihnen auch Halim, erneut zu kleben begonnen. Zwei Männer, die schon eine Weile auf einer Bank am Steintorplatz gesessen hätten, seien dann explosionsartig aufgesprungen und auf die Plakatkleber zugerannt. Einer der Zivilpolizisten habe versucht, Halim Dener zu ergreifen. Der konnte aber sofort flüchten – so haben es beide Zeugen gesehen. Schon etwa 15 Sekunden später hörten beide einen Schuß und Halims Schrei. Der 17jährige hat nach eigenen Angaben Täter und Opfer zum Zeitpunkt des Schusses von der Seite im Blick gehabt: „Als der Schuß fiel, lief der Polizist hinter Halim her, in einer Entfernung von etwa fünf bis sieben Metern“, sagt er. Den Revolver in der Hand des Polizisten habe er nicht wahrgenommen: „Es war schließlich dunkel“, beteuert er. Der 26jährige hat den Schuß zwar gehört, schließt aber aus, daß der Polizeibeamte Halim zwischenzeitlich zu Boden geworfen und in den Polizeigriff genommen hat, wie in der offiziellen Version behauptet. Das sei in der kurzen Zeit überhaupt nicht möglich gewesen, sagt der 26jährige. Er selbst sei während des ganzen Geschehens nur etwa zehn bis 15 Meter weiter gelaufen.

Auch die beiden anderen kurdischen Zeugen bestreiten, daß Halim Dener zwischenzeitlich zu Boden geworfen und von dem Polizeiobermeister in Zivil in einen Polizeigriff genommen wurde. Dieses Detail allerdings ist für die offizielle Version des Tathergangs entscheidend. Denn während dieser kurzzeitigen Festnahme will der Polizeiobermeister seinen Revolver aus dem Holster verloren haben. Beim Wiedereinstecken der Waffe will der Beamte gestolpert sein und dabei versehentlich den Schuß ausgelöst haben.

Bei dem Anwalt, der Halim Dener im Asylverfahren vetreten hat, hat sich ein weiterer deutscher Zeuge gemeldet. Auch dieser gab an, daß der Polizeibeamte hinter Halim herlief, als er auf ihn schoß. Die in Kurdistan lebenden Eltern von Halim haben inzwischen den Bremer Rechtsanwalt Eberhard Schultz mit der Vertretung ihrer Interessen beauftragt. Auch Schulz, der mit allen vier kurdischen Zeugen gesprochen hat, schließt aus, daß das Opfer zwischenzeitlich am Boden gelegen hat. Weder der 26jährige noch der 17jährige Zeuge haben vor dem Schuß einen Warnruf gehört. Auch dies deckt sich mit den Informationen des Rechtsanwalts.

Wer einer Straftat beschuldigt wird, darf anders als ein Zeuge lügen, auch wenn er Polizeibeamter ist. Das weiß sicher auch Hannovers Polizeipräsident Herbert Sander, der sich nach der Tat die Aussage des Schützen zu eigen gemacht hat. Die offizielle Version des Todesschusses ist die wohl einzig mögliche, in der es keinen Verstoß gegen die Dienstvorschriften der Polizei gegeben hat. Die Dienstwaffe bereits bei der Verfolgung eines Plakatklebers auch nur zu ziehen, ist verboten. Die Waffe zu verlieren, ist wegen des Druckknopfs am Holster zwar schwierig, aber nicht rechtswidrig. „Bisher müssen wir davon ausgehen, daß der Beamte den Jugendlichen fluchtunfähig schießen wollte, sagt Eberhard Schulz. Der Anwalt schließt aber auch nicht aus, daß sich der Schuß vielleicht doch von selbst gelöst hat, „aber bei einer Verfolgung mit gezogener Waffe“. Auch dies sei aber bei einem 16jährigen Plakatkleber absolut aberwitzig und rechtswidrig. Jürgen Voges, Hannover

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