: O ja, es war ein grausames Spiel
■ Igittigitt: Nigerias fußballerische Vollbremsung nutzt Roberto Baggio zu einem 2:1 nach Verlängerung
Berlin (taz) – Es fing an wie ein Fußballspiel und endete als die bislang umfänglichste Leistungsschau menschlicher Fehlbarkeit bei dieser Weltmeisterschaft. Doch wo anfangen in diesem Jammertal des Versagens? Vielleicht mit den Trainern, die nach dem Abschlußpfiff ganz ohne Scham auch noch die Lacher auf ihre Seite bringen wollten. „Wenn man in der Schlußphase knapp führt, gehört der Ball den Zuschauern. Die haben schließlich für die Eintrittskarten viel Geld bezahlt“, versuchte Clemens Westerhof in seiner letzten Pressekonferenz als nigerianischer Nationalcoach eine müde Schlußpointe. Haha! Daß seine Mannschaft (Nom de guerre: „grüne Adler“) bereits nach Amunikes Führungstreffer in der 27. Minute eine fußballerische Vollbremsung machte, unterschlug er geflissentlich. „Wir haben einfach zu früh angefangen, hinten dichtzumachen“, maulte Jay Jay Okocha – hoffentlich aber nicht zu laut. Denn der Frankfurter mißinterpretierte zu häufig Fußball als Individualsportart und verlor sich in ziellosen Dribblings.
Der andere große Führer der Beschwerdefront gegen Westerhof, Stürmerstar Yekini, klagte: „Je mehr wir angreifen, desto besser können wir verteidigen. Das ist unser Spiel.“ Stimmt, aber Yekini selber trug zu Angriffsbemühungen kaum bei, so daß es in neunzig Minuten bei der einen Torchance für Nigeria blieb, die zum Führungstor führte. Fast hätten die Nigerianer mit ihrer Fußballverweigerung sogar das Viertelfinale erreicht. Das einstige Trainergenie Arrigo Sacchi scheint inzwischen nämlich auch von allen guten Geistern verlassen zu sein. Nachdem er in den drei Jahren vor der WM insgesamt 73 (!) Spieler getestet hatte, stellte er gegen Nigeria nicht nur die falschen Kicker auf, sondern die richtigen sogar noch auf die falsche Position. Er verschliß Torjäger Signori auf der Position des Ballschleppers und Zuarbeiters, um den trotzdem besten Spieler dann auch noch auszuwechseln. Ungeachtet einer katastrophalen Leistung durfte Roberto Baggio bis zum Ende mitspielen und wurde – so zynisch war der Fußballgott an diesem Tag – auch noch zum Helden des Spiels.
Baggio rettet Italien zwei Minuten vor Schluß erst in die Verlängerung und verwandelte in der Verlängerung einen Elfmeter zum Siegtreffer. „Baggio habe ich nicht ausgewechselt, damit er im entscheidenden Moment zuschlägt“, dürfte sich Sacchi hinterher auch noch recht geben. Den Wanderpokal für die Mannschaft, die sich am offensichtlichsten durchs WM- Turnier schummelt, sonst gerne in deutscher Hand, darf schon jetzt Sacchi entgegennehmen.
Und dann gab es einen, der entschlossen war, den Wahn der Trainer und das grausame Spiel beider Mannschaften noch zu übertreffen: Arturo Brizio Carter, schon im Eröffnungsspiel des Turniers Schnellrichter gegen Boliviens Etcheverry, fiel in eine Art Blutrausch. Neunmal zog er die Gelbe Karte (siehe ganz unten), eher am Zufallsprinzip orientiert als an der Schwere des Vergehens. Und als wäre dem mexikanischen Anwalt für Arbeitsrecht ein dickes Gesetzbuch auf den Kopf gefallen, hielt er auch die Rote Karte falschgesteuert hoch (insgesamt: aktueller WM-Rekord). Den gerade eingewechselten Zola (vielleicht hat der Mann ein Problem mit Reservisten) stellte er flugs vom Platz, während er Maldinis notbremsendes Klammern am endlich einmal allein davonstürmenden Yekini höflich nur mit Gelb ahndete.
Allein gegen die italienische Schwalbenplage im nigerianischen Strafraum ging er entschlossen vor. In ihrer Verzweiflung gaben sich die italienischen Spieler nämlich, so oft es ging, bereitwillig der Erdanziehung hin. Daß Arturo Brizio Carter dabei die Übersicht behielt, dürfte ihn nicht vor dem frühzeitigen Heimflug bewahren. Auch das Problem Westerhof löste der durch seinen sofortigen Rücktritt nach dem Schlußpfiff.
Den Rest sollten, bitteschön, am Samstag die Spanier erledigen. Christoph Biermann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen