: Die ravende Gesellschaft kommt trotzdem
■ betr.: „Über dem Regenbogen“, taz vom 1. 7. 94
Stumfsinn liegt nicht in extrem minimalistischem Hardtrance, der die Extremität einer Dekade exakt wiederspiegelt und – wie ja richtig zitiert – keinen Anspruch auf irgend etwas (auch auf analytische Artikel in der taz nicht) erhebt, sondern im Nichtverstehen(-wollen?) der Tatsache, daß es nichts zu ergründen gibt. Stumpfsinnig ist der unausrottbare Doch-lieber-zurück-zur-„echten“-Musik-Reflex einiger Schreiber, nicht message- und virtuositätsfreier Spaß.
Peter Kessen schwärmt – der Titanic eklige Wörter liefernd – von der „soulfullen Hysterie“ und der „souligen Dramatik“ im Ami- House, richtet den bewundernden Blick also in die gewohnte Richtung, bleibt aber die Erklärung schuldig, wieso Tekkno nicht die erste originär kontinentaleuropäische Musikrichtung ist. Kraftwerk aus Düsseldorf, vielleicht ein Begriff? ... Wahrscheinlich nicht.
Auch andere Soundforscher europäischen Ursprungs, wie Front 242 aus Belgien oder Nitzer Ebb (ausnahmsweise Engländer, aber dafür auch in der Heimat gehaßt), die dem ganzen Tekkno-Phänomen den Boden bereiten, dürften von Peter Kessens Horizont bis heute unberührt geblieben sein.
Europäischer Tekkno ist selbst in seinen kommerziellen Auswüchsen, die ein Minimum an Songstruktur enthalten und die zu kritisieren Peter Kessen gar nicht zusteht, weil er das Phänomen nicht begreift und instinktiv ablehnt, noch radikal und revolutionär. Aber eben nur im musikalischen Sinne, political correctness ist hier nicht gefragt. Wenn man das versteht, kann das sehr erfrischend sein. Sich jeglichen Rock-'n'-Roll- Muff um die Ohren blasen zu lassen von dreitönigen Analogsequenzen – schade, daß Peter Kessen das nie erleben wird. Aber die ravende Gesellschaft kommt trotzdem. Christian Stender, Flensburg
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen