: „Es pulsiert der Ball im Blut“
Brasilien – nach 24 Jahren WM-Titel-Abstinenz soll die Elf heute abend gegen Holland „das Volk zum Tanzen bringen“ (Pelé) ■ Aus Rio de Janeiro Astrid Prange
Am Montag wachte Dalton de Siqueira Beire schweißgebadet auf. Der Informatiker aus Rio versuchte, mit der aufgehenden Sonne einen erdrückenden Alptraum zu verscheuchen: Brasilien verliert schmachvoll gegen die Vereinigten Staaten. Zwölf Stunden zuvor hatte sich Brasilien mit einem 1:0-Sieg gerettet. Doch nach der Angstpartie gegen die USA will bei den Siegern keine rechte Feierstimmung aufkommen. Starstürmer Romario bezeichnet die Leistung der Nationalelf als „armselig“, und die Presse hackt gnadenlos auf Nationaltrainer Carlos Alberto Parreira herum. Für die heutige Partie gegen Holland gelte es, sagt der „Carioca“ – so nennen sich die Einwohner Rios –, die Nerven zu schonen. Und Daumen zu drücken, vor allem weil vor 20 Jahren, bei der WM 1974 die Niederländer den Brasilianern überlegen waren.
Das Klima in dem Land, das 1970 zum letzten Mal den Pokal eroberte, ist äußerst angespannt. Brasiliens Fußballkönig Pelé, der die WM für den brasilianischen Fernsehsender Globo kommentiert, stichelt: „Wie lange noch, Parreira? Wir wollen eine fröhliche Elf, die das Volk zum Tanzen bringt.“ Von Ausgelassenheit ist in Brasilien ohnehin zur Zeit nicht viel zu spüren. Es scheint, als säße den 150 Millionen Brasilianern noch der Tod des Formel-Eins-Siegers Ayrton Senna in den Knochen. Doch die Enttäuschung über die bisherige Leistung der Mannschaft sowie die Trauer um den verstorbenen Rennfahrer sind nicht die einzigen Gründen für eher gedämpfte Siegesfeiern.
Eine für Brasilien ungewöhnliche Kältewelle mit nächtlichen Temperaturen unter zehn Grad sorgt zusätzlich dafür, daß viele Brasilianer die Live-Übertragungen aus den USA lieber in den eigenen vier Wänden verfolgen als auf der Straße zu feiern.
Die Währungsumstellung am 1. Juli von „Cruzeiro Real“ auf „Real“ ließ zudem die Preise derartig in die Höhe schießen, daß sich den Fans bereits nach dem ersten Schluck Bier die Kehle zusammenschnürt. „Der Streß von WM und Währungsreform senkt die Abwehrkräfte. Die Bevölkerung ist grippeanfällig“, erklärt der Homöopath Felix Barbosa de Almeida.
Daß lediglich ein Sieg über Holland die Stimmung im Land wieder zum Brodeln bringen kann, ist der brasilianischen Nationalelf wohl bewußt. „Das brasilianische Volk ist gebeutelt von Verbrechen und Inflation. Aber Fußball kann das Land glücklich machen“, meint Stürmer Bebeto, der am Montag das einzige Tor gegen die USA schoß. Sein Mitspieler Romario gibt sich optimistisch: „Brasilien verdient den Titel, und ich bin dafür mitverantwortlich“, erklärt er ohne falsche Bescheidenheit.
„Brasilien kann es diesmal schaffen“, meint auch Fußballfan Dalton de Siqueira. Denn im Gegensatz zur WM vor vier Jahren bestehe die Mannschaft diesmal aus erfahrenen Spielern, die bereits am Ende ihrer Karriere stünden. „Die Spieler brauchen ihren Marktwert nicht mehr mit Starallüren zu steigern, das verbessert das Mannschaftsklima“, ist er überzeugt.
Auch Ex-Nationalelf-Trainer Telé Santana versucht, Pessimismus zu verscheuchen: „Unsere Spieler haben WM-Erfahrung, sie brauchen heute nicht nervös zu werden.“ Doch eines sei klar: Es gebe jetzt keine Favoriten mehr. „Ins Endspiel kommen die beiden Mannschaften, die den besten Fußball praktizieren. Brasilien könnte eine davon sein.“
Sollte sich Santanas Hoffnung als unbegründet erweisen, steht der Schuldige bereits fest: Trainer Carlos Alberto Parreira. „Brasilien durchlebt ein Dilemma. Entweder es spielt ästhetisch und verspielt, wie es das Publikum will, oder pragmatisch, wie Parreira befiehlt“, faßt die Tageszeitung Folha de Sao Paulo die allgemeine Unzufriedenheit mit dem Coach zusammen. Der 51jährige Stratege, der zuvor die marokkanische Nationalelf trainierte, ist in seiner Heimat als konservativ und risikoscheu gebrandmarkt.
„Das Problem der Nationalmannschaft ist die Dummheit Parreiras. Italien und Schweden haben Spieler ausgetauscht. Ein intelligenter Trainer hätte längst Ronaldo (17) ausprobiert“, flucht der Psychoanalytiker Luis Alberto Py. Beim „Copa“, wie die Brasilianer die Fußball-WM nennen, verwandeln sich mit einem Schlag alle Einwohner der Nation in Patrioten und heimliche Fußballtrainer. „In diesem Monat“, so Dalton de Siqueira, „pulsiert der Ball im Blut.“ Wenn Brasilien sich gegen Holland fürs Halbfinale qualifiziert, dann kommt der Blutkreislauf endlich in Wallung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen