■ In Magdeburg fällt die Vorentscheidung für Bonn: Wer hat Angst vor der PDS?
Bei allem Dissens in der Einschätzung einer künftigen Minderheitsregierung in Sachsen-Anhalt gibt es doch Einigkeit in einem Punkt: Das Experiment von Magdeburg erhält seine Brisanz nicht aus sich selbst heraus, sondern erst und vor allem im Kontext des Wahljahres. Mit anderen Worten: In Magdeburg fällt die Vorentscheidung für Bonn.
Für das Land Sachsen-Anhalt bedeutet dies, daß die öffentliche Auseinandersetzung um die Zusammensetzung der Regierung nahezu völlig losgelöst von den tatsächlichen Problemen vor Ort geführt wird. Das gilt für die SPD so gut wie für die CDU. Wenn die CDU der SPD vorwirft, ihre derzeitigen Entscheidungen seien nur von der Überlegung geleitet, in welches Wahlkampfkonzept welche Magdeburger Variante besser paßt, müßte sie eigentlich davon ausgehen, daß jeder halbwegs intelligente Wähler in der Republik natürlich weiß, daß sie just das nämliche tut.
Die Hoffnung, Scharping als vermeintlichen Kommunistenknecht vorführen zu können, wird der sachsen-anhaltinischen CDU- Fraktion eine reine Obstruktionspolitik diktieren, völlig unabhängig davon, worum es in der Sache geht. Bleibt für das Land die Frage, ob alle CDU-Abgeordneten sich tatsächlich einem solchen Diktat aus dem Bonner Adenauerhaus unterwerfen werfen. Spätestens wenn die Bundestagswahlen vorüber sind, wird sich das sowieso ändern. Das Experiment einer Minderheitsregierung kann sich dann tatsächlich auf den parlamentarischen Alltag einer Landesregierung konzentrieren, die Heuchler aller Lager wenden sich wieder anderen Objekten ihrer Begierde zu, und man wird in aller Ruhe ausprobieren können, ob es nicht auch in Deutschland möglich ist, mit wechselnden Mehrheiten zu regieren.
Alle diejenigen, die tatsächlich besorgt sind, daß die realen Probleme des Landes unter die bundespolitischen Räder kommen, können sich abregen: Spätestens in drei Monaten geht es wieder um die Probleme vor Ort, und dazwischen liegt vor allem die Sommerpause.
Welche Relevanz aber hat nun die mögliche Minderheitsregierung in Magdeburg tatsächlich für die Wahlen in Bonn? Ganz einfach: Sie wirkt wie eine Brausetablette in einem vormals bleischweren Tümpel. Die unablässige Verabfolgung von Schlaftabletten ist vorbei. Leute, die die Wahl im Oktober schon längst abgehakt hatten, wirken plötzlich wieder wie elektrisiert. Unglaublich! Dieser dröge Scharping, dieser hölzerne Pragmatiker mit dem nahezu unstillbaren Drang zur sicheren Seite, traut sich ja doch was!
Das erste Mal seit seiner Wahl zum SPD-Vorsitzenden ist es dem Mann damit gelungen, über seinen eigenen Parteivorstand hinaus Emotionen zu wecken, ein gesellschaftliches Aha-Erlebnis zu inszenieren. Das war Rettung in letzter Sekunde, denn je öfter Scharping bis dato seinen Unwillen über eine Große Koalition bekundete, um so sicherer sahen ihn bereits alle als Juniorpartner an Helmuts Kabinettstisch sitzen. Seit Magdeburg weiß man: Scharping will tatsächlich mehr.
Vor jedem möglichen Erfolg liegt das reale Risiko. Hat die SPD der Union mit der Ablehnung der Großen Koalition in Magdeburg tatsächlich das ideale Propagandainstrument in die Hand gedrückt, welches Kohl noch brauchte, um Scharping den Rest zu geben? Dazu bedürfte es zweier Voraussetzungen: Erstens, die Mehrheit der Deutschen hätte tatsächlich Angst vor der PDS, und zweitens, der Vorwurf, die SPD könnte in Bonn wiederholen, was sie nun in Magdeburg versucht, hätte eine reale Grundlage. Schon die Existenz der ersten Voraussetzung ist stark umstritten. In den neuen Ländern haben sich Angstkampagnen gegen die PDS für die anderen Parteien bislang nicht ausgezahlt, im Gegenteil, Allparteienkoalitionen gegen die Nachfolger der SED haben meistens nur der PDS genutzt. Auch in Westdeutschland könnte sich noch herausstellen, daß eine Verengung des CDU-Wahlkampfes auf das angebliche Volksfrontgespenst sich als ausgesprochener Langweiler herausstellt. Dafür steht die Veränderung in Europa. Mit der Parole, die SPD werde von den Kommunisten am Nasenring durch die Wahlarena gezogen, konnte man vielleicht noch Leute mobilisieren, als die SED nichts anderes als eine Vorfeldorganisation der KPdSU war und diese eine zumindest militärische Supermacht kontrollierte. Wer aber soll im Westen vor dem Verband der Heimatvertriebenen, genannt PDS, tatsächlich noch das Gruseln bekommen?
Es läßt sich sicher trefflich darüber streiten, in welchem Umfang sich die Partei verändert hat, wie hoch nach wie vor der Anteil autoritätsfixierter Altstalinisten ist, wie es um die innerparteiliche Demokratie bestellt ist und mit welcher Verve die Mehrheit der PDS-Mitglieder für die FDGO eintritt. Unbestreitbar ist: Die PDS ist im Osten ein systemintegrierender Faktor – bei ihr sammeln sich die Leute, die ansonsten in ihrer Ablehnung gegen das neue System keinerlei Ventil gefunden hätten. Und ebenfalls unbestreitbar bleibt: Die PDS ist, in welcher Rolle auch immer, objektiv keine Gefahr für das parlamentarische System der Republik.
Bleibt die Frage, wie realistisch eine Magdeburg-Konstellation für Bonn ist. Auch wenn die Umfragewerte für die FDP zur Zeit tief im Keller landen, hat Kohl in einer Frage mit hoher Wahrscheinlichkeit recht: Das politische Beharrungsvermögen in Deutschland ist so groß, daß die FDP wieder in den Bundestag kommen wird. Da die PDS wahrscheinlich auch den Sprung schafft, besteht der nächste Bundestag dann wieder aus fünf Parteien, die diesmal aber keinen Ostbonus mehr haben, sondern alle mindestens fünf Prozent repräsentieren.
Für jeden, der bis 100 zählen kann, ist damit klar, daß die wahrscheinlichste Alternative für eine Regierungsbildung in Bonn nach wie vor Große Koalition oder Ampel ist – und zwar Rot, Gelb, Grün. Als Ergebnis der PDS-Debatte haben die Grünen dann endgültig den Ruch als Bürgerschreck verloren, und die FDP hat für ihren Einstieg in die Ampel wenigstens ein Argument: Sie verhindere damit die drohende Volksfront. Jürgen Gottschlich
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