: Ein bißchen mehr Inhalt
■ betr.: Artikel u. Kommentare zu Rot-Grün und PDS in Sachsen- Anhalt, taz vom 27.6 bis 1.7.94
[...] Es geht im Herbst an der Urne doch um ein bißchen mehr als so banale Fragen wie „Haben Wolfgang Thierse und Rudolf Scharping den Polit-Slang der Öko- beziehungsweise ehemaligen Alternativszene drauf?“, „Zu welcher Pose verknüpfen Ludger Volmer und Joschka Fischer heuer die ultimative moralische Entrüstung mit ebensolcher Koalitionswut?“ oder eben „Können sich André Brie und Gregor Gysi – rhetorisch oder ganz allgemein – auf der Höhe des neolinken bis linksliberalen Zeitgeistes bewegen?“ Protagonisten, denen an der Würdigung ihres Profils liegt und/oder Journalisten, die dergleichen in den Vordergrund stellen, mögen's mir verzeihen: Ich finde es weder spannend noch erhellend, meinetwegen dürfte ein bißchen mehr Inhalt schon sein. Nicht nur, weil die SPD da besser abschneidet und sich in den Niederungen der Konkretisierung blitzschnell herausstellt, daß Gründnis und PDS, allen hochtrabenden Worthülsen und pathetischen Befindlichkeiten zum Trotz, programmatisch auch nur mit (sozialdemokratischem) Wasser kochen.
Sondern auch, weil eine Auseinandersetzung mit den realen Chancen und Grenzen eines Regierungswechsels, mit dem, was dabei raus- beziehungsweise unten im Alltag ankommen kann, unweigerlich ergibt, daß wählen und sich dann – und sei es auch vom selbst bevorzugten – Kabinett regieren lassen allein bei einer ganzen Latte von Problemen bei weitem nicht genügt. Weder Widerstand gegen Nationalismus, Rassismus, Sexismus und Sozialdarwinismus noch umgekehrt Solidarität lassen sich – womöglich abschließend!?! – an welche StellvertreterInnen auch immer delegieren, müssen vor allem auf der individuellen Ebene praktiziert werden. Gesetze und Steuermittel sind sicher wichtige Hilfsmittel zur Bewältigung etlicher Defizite, aber die aktuelle Debatte – auch in der taz – suggeriert, sie seien einziges Instrument und Allheilmittel. [...]
Einer der großen Vorzüge der SPD: Es geht weitgehend sachlich und nüchtern zu, deren meiste VertreterInnen schaffen die Gratwanderung, weder einerseits Probleme zu verharmlosen noch andererseits den maximalen eigenen Beitrag zu deren Bewältigung zu übertreiben. Sprich: Mensch sagt auch mal, was mensch – auch als Kanzler, auch mit einer satten Mehrheit – nicht (regeln) kann. Das ist Realpolitik, und ausgerechnet da haben Gründnis und PDS anscheinend einen sehr ähnlichen Nachholbedarf. Bei den einen ist das überraschend beziehungsweise ein Rückschritt im Vergleich zu einem schon einmal erreichten analytischen Niveau, bei den anderen ist immer noch ein relativer Fortschritt im Vergleich zu Allmachtsphantasien der SED erkennbar. Beruht die gegenseitige Abneigung und Abgrenzung vielleicht auf dieser Differenz in der Gemeinsamkeit? Janine Millington-Herrmann, Karlsruhe
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