: Leoluca Orlandos steter Abstieg
Palermos einstiger Volksheld steht heute im politischen Abseits, seine Bewegung ist am Ende / Der Kampf gegen die Mafia dümpelt vor sich hin / Der Erneuerungswille ist geschwunden ■ Aus Palermo Werner Raith
„Ich mag ihn ja noch immer so gerne, den ragazzo“, sagt Mariapia D'Averio, 57, aus dem Glasscherbenviertel ZEN, „aber er wird gleichzeitig zu einer der größten Enttäuschungen meines Lebens.“ Bernardo Orfanto, 21, Anthropologie-Student an der Universität Palermo, mag „heute nicht mal mehr den Fernsehapparat einschalten, wenn der redet – und dabei habe ich früher keine Demo für ihn ausgelassen, keine Debatte mit ihm versäumt“. Muhammad Mubarak, Tellerwäscher im „Buco“ nahe dem Hafen, sieht „alle schönen Dinge kaputt, an die wir noch vor einem halben Jahr geglaubt haben“.
War der ragazzo, der ewig jungenhaft wirkende Leoluca Orlando, einst das Symbol der onesti di Palermo, der redlichen Bürger der Stadt, so bezeichnen ihn heute selbst enge Freunde nur noch als grande latitante – eine schwere Herabsetzung, denn latitante heißt nicht nur abwesend, sondern auch flüchtig, so wie man es normalerweise auf untergetauchte Mafiosi anwendet.
47 Jahre alt ist Leoluca Orlando jetzt, und was der Jura-Professor aus noblem Hause in den achtziger Jahren nicht nur für Palermo, sondern für ganz Italien getan hat, sollte ihm eigentlich einen festen Platz in der Geschichte der Erneuerung politischer Moral in seinem Lande einbringen. Doch mit fast ebenso großer Beharrlichkeit, mit der er seit 1985 ein halbes Jahrzehnt lang für Transparenz in der Verwaltung, für die Ausschaltung der alten Nomenklatura, für Arbeitsplätze in seiner Stadt und für die Beseitigung des unsagbaren Drecks an der Peripherie Palermos gesorgt hat, werkelt Orlando seit einiger Zeit an seiner eigenen Demontage.
Vor genau einem Jahr war er triumphal ins Amt des Bürgermeisters zurückgewählt worden, nachdem ihn 1991 sein eigener Parteifreund Giulio Andreotti, damals Ministerpräsident, hatte stürzen lassen. Nun, nach der Einführung der Direktwahl des Bürgermeisters, hatte Orlando gleich im ersten Wahlgang 75 Prozent der abgegebenen Stimmen in Palermo bekommen.
Acqua passata – alles längst vorbei. Verklungen die geschichtsträchtigen Worte der Mariapia D'Averio, die immer wieder in die Fernsehkameras gesagt hatte: „Schaut, der Mann da, das ist nicht mein Bürgermeister – das ist der Bürgermeister meiner Söhne.“ Vorbei die Zeiten, in denen sich trotz Mafiaverseuchung und schweren Repressionen durch die Unterweltler nach Aufrufen durch die Schülergruppen – wie denen, für die Bernardo Orfanto stand – dreißig- bis vierzigtausend bis Leute aufgemacht und für „ihren“ Bürgermeister demonstriert haben. Vorbei auch die vielen Einladungen landauf, landab zu Versammlungen und Talk-Shows für Orlando – heute ruft ihn faktisch nur noch das Ausland, wo die meisten Bewunderer noch immer nicht mitbekommen haben, was da abläuft.
Ja, und was läuft ab? Tatsache ist, daß Orlando, der einstige Macher, in diesen zwölf Monaten seit seiner Wahl noch nicht ein einziges Wahlversprechen einlösen konnte – obwohl er durch das geänderte Gesetz über die Kompetenzen des Stadtoberhaupts mehr Macht hat denn je, obwohl ihm eine satte 60-Prozent-Mehrheit im Stadtrat zur Seite steht und obwohl er im Gegensatz zu den ersten Prognosen auf eine stattliche Anzahl von Fördergeldern aus der EU-Kasse zählen kann. Doch da sind weder neue Arbeitsplätze entstanden, noch wurde die einst von seiner Lieblingsdezernentin für Stadtentwicklung, Letizia Battaglia, begonnene Sanierung der heruntergekommenen Viertel energisch fortgeführt; Bau- und Investitionsruinen wie das Verdi-Theater wurden auch unter Orlando nicht weiterverfolgt, was ihm nun zu allem auch noch ein Ermittlungsverfahren wegen Amtsmißbrauchs eingetragen hat.
Das ZEN-Viertel, vor dreißig Jahren als angebliche Musterperipherie geplant, dann der Mafia- Bauspekulation zum Opfer gefallen, war in den achtziger Jahren einer der Hauptstützpunkte Orlandos – er versprach, die fehlenden Wasserleitungen, den Strom, Schulen und Kindergärten zu bringen oder wieder instand zu setzen. Einiges davon hat er seinerzeit realisiert – und konnte für das, was nicht klappte, seine Gegner verantwortlich machen, die ihn ständig blockierten. Heute sind die Bauten verwahrloster denn je, selbst die vor fünf Jahren aufgestellten Wassercontainer sind leck und werden kaum mehr aufgefüllt. Ratten nisten allerorten und übertragen allerlei Krankheiten – selbst die sonst in ihren Standplätzen nicht gerade wählerische Gruppe der Nichtseßhaften scheut die Gegend. Im Stadtkern scheint alles auf dem Stand von 1990 eingefroren – längst blättert wieder der Putz von den bis dahin renovierten staatlichen Gebäuden.
Auf eine merkwürdige Weise unberührt bleibt von alledem Orlando selbst. Je mehr Freunde ihm den Rücken kehren, um so energischer glaubt er an sich selbst. „Er ist Gottvater geworden“, murrt Carmine Mancuso, einst Mitgründer der Antimafia- und Antikorruptionspartei „la Rete“, „hält sich für unfehlbar und hat jede Fähigkeit zum Dialog verloren.“ Letizia Battaglia, noch immer vom Volk heißgeliebte Grüne aus der ersten „Regierung Orlando“, hatte das Desaster kommen sehen – schon 1992, bei den vorletzten Wahlen, hatte sie ihren Orlando immer wieder darauf hingewiesen, wie deutlich er seine Basis zu verlieren beginnt.
Doch unverdrossen jettete der Volks- und Fernsehliebling im Ausland herum – das Wahldebakel seiner „Rete“ im März (gerade noch ein Prozent, gegenüber dem Dreifachen vor zwei Jahren und gar dem Fünffachen bei Regionalwahlen) war die Folge. Enge Mitarbeiter wie der ehemalige Untersuchungsrichter Carlo Palermo verließen die Gruppen wegen „eindeutig mangelnder demokratischer Gesinnung“, der Sohn des 1982 ermordeten Generals Carlo Alberto Dalla Chiesa, Nando – eine der charismatischsten Figuren der italienischen Politik –, hielt noch am längsten zu Orlando, hat sich aber im Mai ebenfalls von ihm losgesagt und baut derzeit eine eigene neue Gruppierung zusammen.
Die verbliebenen Freunde rätseln, was da geschehen sein mag. Die am häufigsten zitierte Version stammt von einem Psychoanalytiker: Danach hat Orlando offenbar irgendwann die ständige Angst vor Attentaten in eine Art unangreifbare Unverwundbarkeit verwandelt – er glaubte, in jedem Falle bald einem Anschlag zum Opfer zu fallen, und bereitete sich im Inneren nur noch auf diesen Moment vor, verlor damit jeden Blick für die Außenwelt – und findet nun nicht mehr zurück.
Mitunter kommen fast skurrile Sprüche über Orlandos Lippen: Er betrachte den Palazzo delle Aquile, den Sitz des Bürgermeisters von Palermo, „als Vorzimmer für den Palazzo Chigi“ – also das Palais des Ministerpräsidenten in Rom so, als höre er bereits unausweichlich den Ruf ins höchste politische Amt.
Dann wieder zwingt er seine Gefolgsleute zu brüsken Kehrtwendungen, unterschreibt zuerst einen Antrag für Referenden, um diese danach abzulehnen, polemisiert plötzlich und ohne Absprache mit irgend jemandem gegen die Abtreibung in den ersten drei Monaten.
Freilich ist der Niedergang Orlandos und seiner einst mit so vielen Hoffnungen begleiteten „Rete“ nicht nur den Starallüren Orlandos und dem abhanden gekommenen Schwung seiner Bewegung zuzuschreiben. Tatsächlich hat sich das Klima in ganz Italien stark gewandelt. Vom noch vor wenigen Monaten starken Erneuerungswillen ist nicht mehr viel geblieben, selbst die Prozesse gegen die Mitglieder der alten Nomenklatura finden kaum noch Interesse.
Die ständige Behämmerung der Bürger durch die Medien des neuen Ministerpräsidenten Berlusconi – bei gleichzeitiger Paralysierung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens durch Budgetkürzungen und Drohungen gegen die auf Unabhängigkeit bedachte Intendanz – trägt ihre Früchte: Ein Wechselbad aus düsteren Prognosen über weitere Jahre der Austerität und Ankündigungen für „die“ Lösung durch den Patentrezeptinhaber Berlusconi lenkt längst alle Aufmerksamkeit von den bereits angelaufenen Agreements zwischen Regierung und Mafia, zwischen Beamten und alten Dunkelmännern ab.
Gleichzeitig bewirkt die Fixierung des Auslands auf eine mögliche faschistische Gefahr – sehr zur Freude des reinen Pragmatikers Berlusconi – ebenfalls eine Abnahme der Aufmerksamkeit in Sachen Filz zwischen Administration und Unterwelt. Da wird eine Bewegung wie „la Rete“ mit ihrer Forderung nach Aufklärung und Durchschaubarkeit schnell obsolet.
Für Orlando hätte die Reaktion seiner Anhänger auf den Ermittlungsbescheid in Sachen Verdi- Theater das letzte große Alarmzeichen, das Signal zu einer radikalen Umkehr sein müssen: keine Hand hat sich für ihn gerührt, kein Medium ist zu seiner Verteidigung angetreten. Und das obwohl es sich bei dem Verfahren um eine regelrechte Absurdität handelt: Orlando hatte 1988 die Regierung in Rom gebeten, die Stadt von sämtlichen öffentlichen Aufträgen zu entbinden, die sie aufgrund früherer Zuerkennungen nicht mit Sicherheit außerhalb mafioser Einflüsse realisieren könne – die Renovierung des Verdi-Theaters aber gemächelt seit mehr als zwanzig Jahren vor sich hin, ohne daß je eine Fertigstellung absehbar war. Die mit diesem Schritt Orlandos verbundene Rückgabe der ausgeschütteten Gelder rechnet ihm die Staatsanwaltschaft nun als Mißbrauch seines Amtes an.
Doch Orlando verkennt ein weiteres Mal die Zeichen der Zeit. Statt den Ermittlungsbescheid zum Anlaß für eine neue Offensive gegen das Dunkelmännertum zu nutzen, von nun an ununterbrochene Präsenz in Palermo zu geloben und die versprochenen Projekte wirklich in Angriff zu nehmen, sucht er sich mit allerlei juristischen, dem Bürger kaum verständlichen Kniffen zu rechtfertigen und wiederholt nur immer wieder die eine Botschaft – daß er nicht daran denke zurückzutreten. „Zur Überwindung der Lethargie der Bewegung“, hatte Letizia Battaglia schon vor Monaten gesagt, „braucht man aber mehr als nur an ihrem Sitz klebende oder in der Weltgeschichte fernab des Geschehens daheim herumjettende Menschen.“
Vielleicht aber müßte Orlando nur seinen eigenen Rat befolgen, den er auf dem Höhepunkt seiner Wirksamkeit Ende der achtziger Jahre so gerne anderen – aus der damals noch herrschenden Elite – erteilt hat: „Wer viele Jahre im Mittelpunkt der Politik stand, sollte sich zumindest ab und zu ein paar Monate Zeit zur inneren Runderneuerung nehmen und dann prüfen, ob er überhaupt noch imstande ist, dem Volk etwas zu geben.“
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