: „Ich bete jeden Tag, hierbleiben zu dürfen“
Alltag im Vietnamesenwohnheim in der Mahrzahner Havemannstraße / 1.600 VietnamesInnen leben in 150 Wohnungen / Mindestens einmal wöchentlich macht die Polizei Razzia / Durch die Überbelegung wächst die Gewaltbereitschaft ■ Von Anja Nitzsche
Noch ein paar Meter weiter, und die Stadt ist zu Ende. Berlin-Marzahn, Havemannstraße. Hier zeigt sich das Ostberliner Plattenbauwunder von seiner tristesten Seite. Grau in Grau reihen sich die Wohnblöcke aneinander. Am Ende der breiten Straße, von den übrigen Häusern durch einen Abhang – vorsorglich? – getrennt, steht der „Fidschieblock“, wie ihn die deutschen Anwohner nennen. Das Zuhause von 1.600 VietnamesInnen. Etwa 400 sind ehemalige VertragsarbeiterInnen, den Rest bilden hinzugezogene Asylbewerber. Illegale, wie sie die Heimleitung nennt.
Es ist Donnerstag nachmittag. Fröhliches Treiben auf dem Bürgersteig. Fliegende Händler bauen ihre Stände auf: exotisches Gemüse, Reis gleich säckeweise, asiatische Tütensuppen und noch tiefgefrorene Fische liegen etwas unappetitlich in der Nachmittagssonne. Alles findet seine Abnehmer, denn diese Produkte fehlen den VietnamesInnen in der nahe gelegenen Kaufhalle.
Plötzlich: Reifenqietschen, mehrere Polizisten stürmen aus ihren Wannen und rennen in den Aufgang der Havemannstraße 38. „Razzia“, murmelt Marina Tischer von der Beratungsstelle Ball e.V., die im Nebenhaus arbeitet und vor allem ehemalige Vertragsarbeiter berät. Und das klingt bei ihr schon fast so wie „Schönes Wetter heute“. Aber eine Razzia sei schließlich auch nichts Besonderes mehr, denn so etwas passiere hier mittlerweile mindestens ein-, zweimal die Woche.
Heute jedoch ist es etwas anders. Denn nicht nur Polizei ist an der Durchsuchung beteiligt, sondern auch der Heimleiter des Blocks und zwei Vertreter der Marzahner Wohnungsbaugesellschaft AR- WO-GE. Ein paar Minuten vergehen, und plötzlich segeln, vollkommen unerwartet, Matratzen in hohem Bogen auf den Gehweg. Die Heimleitung räumt auf. Die Wohnungen werden gestürmt, die Bettenanzahl kontrolliert. Für jeden legalen Mieter eine Matratze, das muß wohl reichen.
Alle weiteren sind nur Hinweis darauf, daß sich hier illegale Asylbewerber eingeschlichen haben. Also, weg damit! Gleichzeitig werden noch Kochplatten, Tauchsieder und Heißwasserbereiter beschlagnahmt. Begründung: Sie befinden sich nicht in einem sicherheitstechnisch einwandfreien Zustand. Keiner der Mieter erhält ein Protokoll über die gestohlenen Gegenstände. Abschließend werden noch sämtliche Schränke kontrolliert. Diese fördern eine weitere Ausbeute zutage: 500.000 Zigaretten. Nach einer halben Stunde ist der ganze Spuk dann endlich vorbei.
Als „Privatrazzia des Heimleiters unter Polizeischutz“ sieht die „Antirassistische Initiative“ die durchgeführte Aktion. Und die Beteiligten dürfen sich auf die Schulter klopfen, für jeden war etwas dabei. Der Heimleiter konnte einmal mehr gegen die illegal hier wohnenden vietnamesischen Asylbewerber vorgehen, und den Polizisten bleiben die Zigaretten.
Lan, eine kleine stämmige Vietnamesin, ist wütend: „Ich bin gerade erst nach Hause gekommen. Zu spät, denn die sind einfach in meine Wohnung gegangen und haben kontrolliert. Was passiert, wenn die mir jetzt irgend was wegen Zigaretten anhängen, es gibt doch dafür keine Zeugen!“
In der ganzen Aufregung springt für mich dennoch eine Einladung auf eine Tasse grünen Tee bei Lan heraus. Trotz allen Ärgers, Zeit für einen Plausch muß sein. Aber zunächst einmal geht es den kahlen Treppenaufgang hinauf, japsend bis zum achten Stock. Auf meinen sehnsüchtigen Blick zu den braunen Eisentüren des Fahrstuhls entgegnet Lan: „Die stehen nach fünf Uhr nachmittags still, denn wenn die Heimleitung Feierabend macht, stellt sie die Fahrstühle ab.“
Lan lebt hier mit ihrem Sohn. Sie teilt sich mit einer weiteren vietnamesischen Familie eine kleine Zweizimmerwohnung. Für jeden bleibt ein winziger Raum, Küche und Bad werden gemeinsam benutzt. Auf den Klingelschildern am Eingang fehlen die Namen, dafür weisen fast unleserliche Zettel, mit Filzstift bekritzelt, an den Türen auf die Bewohner hin: „Tho – bitte einmal klingeln. Für Lan zweimal.“ Im kleinen Raum wird es eng. Die Dreißigjährige ist nicht auf Gäste eingerichtet. Eingeklemmt sitzen wir zwischen Matratze, Tisch und Kinderbett. Überdimensional thront eine Stereoanlage in der Ecke. In Kopfhöhe hängt ein winziger Ahnenschrein, den Lan täglich mit Obst und Räucherstäbchen belädt, um die Götter gnädig zu stimmen.
„Ich bete jeden Tag, um in Deutschland bleiben zu dürfen“, kommt sie einer Frage zuvor. Sechshundert Mark kassiert die AR-WO-GE monatlich für dieses Zimmer, fast doppelt soviel wie in vergleichbaren deutschen Haushalten. Für Lan sind es jedoch fast paradiesische Zustände, unter denen sie hier haust. Sie fühlt sich wohl in Deutschland. „Hier geht es mir tausendmal besser als in Vietnam. Dort habe ich keine Wohnung und könnte sie mir auch nicht leisten.“
Lan lebt seit 1987 in Deutschland, bis zur Wende arbeitete sie als Näherin bei „Becon Classic“ in der Greifswalder Straße. Im Dreischichtsystem. „Das war schon hart. Außer arbeiten, essen und schlafen war damals nicht viel drin.“ Achthundert Mark hat sie verdient, ungefähr sechshundert blieben ihr davon zum Leben. Denn die Wohnheimmiete, damals 30 Mark für jeden, wurde gleich vom Lohn abgezogen, und auch der vietnamesische Staat kassierte seinen „Pflichtbeitrag“ ab. Mindestens zwölf Prozent des Verdienstes gingen nach Hanoi.
Ein lukratives Geschäft, denn Vietnam hat in den letzten zehn Jahren billige Arbeitskräfte zu Tausenden ins Ausland geschickt. Offiziell noch unter den Stichworten: „Proletarischer Internationalismus“ und „Solidarität“ propagiert, diente der Arbeitskräftetransfer doch vor allem dazu, den riesigen Schuldenberg des südostasiatischen Landes gegenüber der ostdeutschen Republik abzutragen. Auf der Grundlage von Regierungsabkommen kamen allein von 1980 bis 1990 über 10.000 VietnamesInnen in die DDR. Im allgemeinen mit einem Fünfjahresvertrag in der Hand, der die vorgesehene Tätigkeit im Betrieb regelte. Versprochen wurde ihnen vor allem eine Berufsausbildung, die sie dann später in ihrem Heimatland gut gebrauchen könnten.
Die Realität sah allerdings anders aus. Die meisten wurden in Betrieben eingesetzt, die über Arbeitskräftemangel zu klagen hatten. In Berlin waren die VietnamesInnen bei der Textilreinigung Rewatex, im Funkwerk Köpenick, im Glühlampenwerk Narva oder bei der Reichsbahn beschäftigt. Fließbandarbeit. „Viel gelernt habe ich damals nicht“, gibt Lan zu. „Ein obligatorischer zweimonatiger Deutschkurs war fast schon alles. Und nähen – das konnte ich ja schon vorher.“ Aber der Verdienst sei in Ordnung gewesen, und Lan konnte mit monatlichen Geldüberweisungen ihre Familie zu Hause unterstützen.
Dabei war es für die VietnamesInnen nicht einfach, ins Ausland zu kommen. In vielen Fällen mußten Beziehungen herhalten und die auch in Vietnam übermächtige Bürokratie mit horrenden Schmiergeldern bezahlt werden. Die DDR stand dabei auf der Wunschliste ganz oben, lebte es sich doch hier ungleich besser als in Rußland oder Polen. Entsprechend hoch waren auch die Schmiergelder, wollte man von den Hanoier Genossen nach Ostdeutschland geschickt werden. „Fast immer war die gesamte Großfamilie gefragt“, weiß Marina Tischer. „Sämtliche Ersparnisse wurden zusammengetragen, um die erforderliche Summe aufzubringen. Damit konnte wenigstens ein Familienmitglied ins Ausland gehen und die restlichen Verwandten dann kontinuierlich unterstützen.“
Um so härter traf die VertragsarbeiterInnen dann die Wende. Die maroden DDR-Betriebe machten dicht oder ließen sich „gesundschrumpfen“, die VietnamesInnen waren die ersten, die auf die Straße flogen. Lieber heute als morgen sollten sie wieder nach Hause zurückkehren. Auch Lan verlor ihren Job. „Gleich 1991 bekam ich meine Entlassung, noch eher als die anderen, denn ich war schwanger, und nun wollte mich der Betrieb nicht mehr.“ Die Betriebe zahlten im günstigsten Fall 3.000 Prämie für diejenigen, die nun nach Vietnam zurückkehrten. Kopfgeld. Diejenigen, die bleiben wollten, erhielten eine Aufenthaltsbewilligung bis zum Auslaufen ihres ursprünglichen Arbeitsvertrages. Nur etwa 15.000 VietnamesInnen verschmähten das vom Betrieb bezahlte Flugticket in die Heimat. Auch Lan ließ sich mit diesem „großzügigen“ Angebot nicht ködern: „Was soll ich mit dem Geld? Wenn ich nach Hause gehen würde, hätte ich keine Chance, einen Arbeitsplatz zu finden. Mit dreitausend Mark könnte ich vielleicht drei Monate überleben – und dann?“
Problematisch wäre für sie auch eine Rückkehr in ihre Familie. Gerade alleinstehende Vietnamesinnen mit Kindern finden kaum mehr Platz in der konfuzianisch geprägten Gesellschaft. Lan hat das deutlich zu spüren bekommen. Daß sie in Deutschland allein mit ihrem Sohn lebt, können ihr die Eltern nicht verzeihen. Lan zeigt mir einen Brief von ihrer Mutter. „Du bist nicht mehr unsere Tochter, bleib, wo Du bist“, steht dort, und Lan kämpft sekundenlang mit den Tränen. „Was soll ich machen, für mich gibt es keinen Weg zurück!“
Dabei hat auch sie schon ihre Ausweisung in der Hand. Denn Lan, arbeitslos und angewiesen auf Sozialhilfe, stellte sich vor drei Jahren wie so viele ihrer Landsleute an den Straßenrand und verkaufte – Zigaretten. Bei einer Polizeirazzia wurde sie mit zwei Stangen erwischt. Ein Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts hatte festgeschrieben, daß schon einmaliger Zigarettenhandel mit „fünf Stangen und weniger“ ein Grund zur Abschiebung sei. Zitat: „Eine Ausweisung ist auch aus generalpräventiven Gründen insofern gerechtfertigt und erforderlich, als sie der Abschreckung anderer Ausländer dienen soll, wegen der selbst beim Verkauf geringster Mengen Zigaretten verhältnismäßig hohen Gewinnspanne am organisierten Zigarettenhandel aktiv teilzunehmen.“
Mit Hilfe der MitarbeiterInnen der Beratungsstelle Ball e.V. gelang es Lan, vor die Härtefallkommission des Senats zu kommen. Sie erhielt daraufhin eine Duldung bis Ende Juli. Lan ist nun in einer Umschulung zur „Bürokraft für Finanzierung“ untergekommen. Diese läuft Ende des Jahres aus. Dann beginnt das Bangen um den Aufenthalt in Deutschland von neuem. Denn nur wenn sie in kürzester Zeit auch eine Arbeit finden wird, besteht die Chance, eine auf zwei Jahre befristete Aufenthaltsbewilligung zu erhalten.
Während Lan noch bereitwillig über sich erzählt, bleiben die anderen Türen im Wohnheim in der Havemannstraße vor den Blicken neugieriger Fremder fest verschlossen. Selbst für die Mitarbeiter der Beratungsstelle ist es schwer, mit den VietnamesInnen ins Gespräch zu kommen. „Sie haben viel zuviel Angst. Denn in fast jeder Wohnung wohnen jetzt noch illegal Asylbewerber mit, die hier zu Freunden und Bekannten gezogen sind.“ Und das Spannungsfeld zwischen VertragsarbeiterInnen und AsylbewerberInnen ist enorm. Während die ehemaligen DDR-VertragsarbeiterInnen noch gute Karten haben, bei Nachweis von Wohnung und Arbeit ein Aufenthaltsrecht zu bekommen, sieht die Situation für die Asylsuchenden ganz trübe aus. Nur 0,2 Prozent der gestellten Anträge wurden für sie im letzten Jahr positiv entschieden. Im Klartext: fast kein einziger.
„Viele versuchen sich nun noch schnell etwas Geld zu verdienen, um nach einer Abschiebung in Vietnam überleben zu können“, meint Marina Tischer. „Und wer hier ankommt, hat in der Regel auch einen riesigen Schuldenberg abzubauen. Summen um 6.000 Mark und mehr. Und die Schlepperbanden sorgen schon dafür, daß sie ihr Geld bekommen. Sie weisen den VietnamesInnen meist schon bei ihrer Ankunft einen Stellplatz zum Zigarettenverkauf zu.“ Daß es nicht die kleinen Zigarettenhändler sind, die das große Geld verdienen, ist klar. Denn nur zwei Mark pro verkaufte Stange dürfen sie behalten.
„Natürlich ist das Zigarettengeschäft kriminell“, erklärt Marina. „Und die Mafia gut organisiert. Oft kommt es hier zu ziemlich handfesten Auseinandersetzungen. Allein 1993 gab es in der Havemannstraße zwei Tote. In diesem Jahr sind wir bisher davon verschont geblieben.“ Schuld an dieser zugespitzten, gewaltgeladenen Situation sei vor allem die extreme Überbelegung der Häuser. 1.600 VietnamesInnen in 150 Wohnungen – ein Konfliktpotential, das schon lange nicht mehr zu kontrollieren ist.
Ursprünglich gab es die Idee, das Heim bis 1996 leerzuräumen und die VietnamesInnen mit eigenem Wohnraum zu versorgen. Knapp 300 haben es geschafft, für die anderen wird es wohl noch eine Weile dauern. „Obwohl Bezirksbürgermeister Andreas Rühl (SPD) die Idee unterstützt, haben wir jetzt die Auskunft bekommen, daß es unklug sei, nun auf Teufel komm raus das Wohnheim leermachen zu wollen. Denn es gäbe noch genügend deutsche Familien, die auf eine Wohnung warten.“
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