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Schwedische Gardinen mit Löchern

Schade, daß es beim Fußball keine Disqualifikation wegen Passivität gibt: Schweden hätte sie beim Halbfinale (0:1) gegen Brasilien schon nach wenigen Minuten verdient  ■ Aus Pasadena Matti Lieske

Wären durch irgendeinen saudummen, wenn auch schwer vorstellbaren Zufall, die Schweden im Halbfinale gegen Brasilien als Sieger vom Platz gegangen, man hätte die WM eigentlich sofort abbrechen müssen. Doch wenigstens im Fußball gibt es hin und wieder Gerechtigkeit, und so breitete sich, als der karge 1:0-Sieg des bisher dreimaligen Weltmeisters feststand, tiefe Genugtuung im Stadion von Pasadena aus, und dies keineswegs nur bei den brasilianischen Anhängern.

Die Mexikaner, die in Kalifornien das Gros des WM-Publikums stellen, lieben den Fußball Brasiliens aus alter Tradition, aber auch die brandneuen Mitglieder der Soccer-Gemeinde aus den USA haben ihr Herz an Romario und seine Mitstreiter verloren.

Zum einen liegt das daran, daß die unaufhörlich gutgelaunten und trommelrührenden Fans in gelbgrün auf staunende Sympathie stoßen in einem Land, wo selbst beim Basketballfinale die Houston Rockets erst öffentlich Klage führen mußten, bis in ihrer Halle so etwas wie Stimmung aufkam. Zum anderen ist man in den USA heilfroh, daß Italien und Brasilien endlich mit all den unaussprechlichen Namen wie Stoitchkow, Tzwetanow, Houbtschew und den ganzen leidigen -lunds und -ssons kurzen Prozeß gemacht haben.

Costacurta, Signori, Casiraghi – das kennen sie, wenn sie nicht gleich selber italienischer Abstammung sind, aus den vielen Mafia- Filmen, und Bebeto, Romario oder Rai ist fast so leicht wie Magic Johnson und O.J. Simpson. Aber dies sind nicht die einzigen Gründe für die plötzliche Welle der Zuneigung. Vielmehr haben zahlreiche Mitglieder der US-Bürgerschaft in den letzten vier Wochen genug Fußballverstand entwickelt, um beurteilen zu können, daß Brasilien tatsächlich den schönsten aller Fußbälle spielt.

Nachdem Romario zu Beginn noch gegrantelt hatte, man kicke „technisch armselig“, hat sich die Mannschaft von Spiel zu Spiel gesteigert und außerdem, wie es heißt, auch außerhalb des Stadions eine Harmonie entwickelt, die Assistenz-Trainer Mario Zagalo mit der des mythischen Weltmeister- Teams von 1970 vergleicht, eine Art Geist von Spiez in der Macumba-Variante. Und Zagalo muß es wissen. Er war damals Chefcoach.

Schön spielen, das taten „die Champions des romantischen Fußballs“ anfangs auch gegen die Schweden, den weitaus unterlegensten Gegner, der ihnen bei dieser WM bisher durch die Spielzüge gelaufen ist. Tommy Svensson, der Dorfschullehrer im Trainergewand, hatte eine ganz besondere Strategie gegen den brasilianischen Wirbel ausgeheckt. Sein Team verweigerte sich einfach jeglichem Fußballspiel und wäre bei anderen Sportarten wie Ringen oder Boxen nach wenigen Minuten wegen Passivität disqualifiziert worden.

Ganze dreimal beförderten sie in neunzig Minuten den Ball – in harmloser Weise – auf Taffarels Tor, ansonsten versuchten sie, eine schwedische Gardine vor ihrem Strafraum zu installieren und verteidigten sie mit Mann und Maus – aber das auch noch schlecht. Brasilien konnte sich vor der Pause eine Torchance nach der anderen herausspielen, doch je besser die Schußposition, desto krasser versiebten Mazinho, Zinho, Bebeto und erstaunlicherweise Romario ihre Möglichkeiten.

Vor allem letzteres sind die Brasilianer nicht gewöhnt, und so machte sich erst Verwirrung, dann Ratlosigkeit und schließlich Verzweiflung breit. So viele Räume boten sich ihnen, daß sie oft nicht wußten, welche sie nutzen sollten, und da sich die Schweden in der Mitte häuften, landete der Ball meist auf den Flügeln. Bevorzugt auf dem rechten, wo Jorginho in christlicher Duldsamkeit eine hohe Flanke nach der anderen in den Strafraum schlug, als lauerten dort Bruno Labbadia und Adolfo Valencia. Doch da war nur der kleine Romario inmitten hünenhafter Schweden.

Als selbst der Platzverweis für Jonas Thern nach einer wüst aussehenden Attacke gegen Dunga nichts änderte, senkte sich Stille herab über die Rose Bowl und lediglich die beharrlichen Trommeln versuchten noch Optimismus zu verbreiten. Brasiliens Spiel wurde lethargisch, die Atmosphäre gespenstisch. Romario stellte seine Aktivitäten nahezu ein, sowohl die Spieler als auch die Zuschauer schienen jeden Glauben an die Möglichkeit eines Torerfolgs verloren zu haben.

Nur Jorginho nicht, dessen Anhänger vor dem Stadion Broschüren verteilten, in denen der fromme Verteidiger den Zusammenhang von Gottesfurcht und Torerfolg erläutert. Irgendetwas scheint dran zu sein, denn Jorginho flankte gebetsmühlenartig weiter, bis in der 81. Minute das ersehnte Wunder eintrat. Romario stand plötzlich frei vor Torwart Ravelli und köpfte die 125. Jorginho-Eingabe zum 1:0 ins Netz, was Trainer Svensson überhaupt nicht wunderte. „Die hatten so viele Chancen“, sagte er, „da mußte das irgendwann passieren.“

25mal schossen die Brasilianer vergebens aufs Tor, der einzige Kopfball brachte den Sieg, denn die Vorspiegelung einer schwedischen Schlußoffensive blieb erfolglos. Ein eigentümliches Halbfinale hatte schließlich sein verdientes Ende gefunden.

Trainer Tommy Svensson (Schweden): „Das Rumänien-Spiel hat uns zuviel Kraft gekostet. Ich bin enttäuscht, aber wir haben gegen eine bessere Mannschaft verloren. Zu Therns Platzverweis kann ich nur sagen, daß ich den Pfiff wirklich nicht verstanden habe.“

Trainer Carlos Alberto Parreira (Brasilien): „Die Schweden haben uns nie ernsthafte Gefahr bereitet. Wir schossen 29mal auf ihr Tor und hatten neun klare Torchanchen. Das 1:0 spiegelt also nicht unsere deutliche Überlegenheit wider. Das Finale gegen Italien wird ein großer Klassiker.“

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