■ Václav Havel: Auf der Suche nach Transzendenz in einer postmodernen Welt: Das Wunder des Seins
Es gibt gute Gründe für die Vermutung, daß die Zeit der Moderne abgelaufen ist. Heute nennt man diesen Zustand des Geistes oder der menschlichen Welt Postmodernismus. Als Symbol dieses Zustands erscheint mir persönlich ein Beduine auf einem Kamel, in die traditionellen Gewänder gekleidet, unter denen er Jeans trägt, in den Händen ein Transistorradio, und auf dem Rücken seines Kamels glänzt eine Reklame für Coca-Cola. Ich mache mich darüber weder lustig noch vergieße ich eine intellektuelle Träne über die kommerzielle Expansion des Westens, der fremde Kulturen zerstört. Ich sehe es als typischen Ausdruck dieser multikulturellen Zeit, als Signal für eine Amalgamierung der Kulturen. Ich sehe es als Beweis, daß etwas geboren wird.
Die schwindelerregende Entwicklung der Wissenschaft mit ihrem bedingungslosen Glauben an die objektive Realität und ihrer vollständigen Abhängigkeit von allgemeingültigen und rational begreifbaren Gesetzen führte zur Geburt der modernen technologischen Zivilisation. Es ist die erste Zivilisation, die den gesamten Globus umspannt, die alle Gesellschaften verbindet und einem gemeinsamen globalen Geschick unterwirft. Gleichzeitig scheint das Verhältnis zur Welt, das die moderne Wissenschaft nährte und prägte, seine Möglichkeiten erschöpft zu haben. Diesem Verhältnis fehlt etwas.
Über das Universum wissen wir vermutlich unermeßlich viel mehr als unsere Vorfahren, und dennoch hat es zunehmend den Anschein, als hätten sie darüber etwas wichtigeres gewußt als wir, etwas, das uns entgeht. Das gleiche wie für die Natur gilt für uns selbst. Je gründlicher all unsere Organe und ihre Funktionen, ihre interne Struktur und die darin ablaufenden biochemischen Reaktionen beschrieben werden, desto mehr scheinen wir den Geist, das Ziel und die Bedeutung des Systems zu verfehlen, das sie in ihrer Gemeinsamkeit bilden, und das wir als unser einzigartiges Selbst erfahren. So genießen wir alle Errungenschaften der modernen Zivilisation. Und doch wissen wir nicht genau, was wir mit uns anfangen sollen.
Wir leben in der postmodernen Welt, wo alles möglich und fast nichts sicher ist. Dieser Zustand der Dinge hat soziale und politische Konsequenzen. Die planetarische Zivilisation konfrontiert uns mit globalen Aufgaben. Wir stehen ihnen hilflos gegenüber, weil unsere Zivilisation im wesentlichen nur die Oberfläche unseres Lebens globalisiert hat. Aber unser inneres Selbst führt weiterhin ein Eigenleben. Und je weniger Antworten die Ära des rationalen Wissens auf die grundlegenden Fragen der menschlichen Existenz bereit hält, desto stärker scheinen sich die Menschen an die uralten Gewißheiten ihres Stammeslebens zu klammern. Kulturelle Konflikte werden häufiger und sind heute gefährlicher als zu jedem anderen Zeitpunkt der Geschichte.
Die Politiker machen sich zurecht darüber Sorgen, wie der Schlüssel zum Überleben einer globalen und multikulturellen Zivilisation zu finden sei: wie anerkannte Mechanismen des friedlichen Zusammenlebens begründet und nach welchen Prinzipien sie gestaltet werden sollen. Diese Fragen sind durch die beiden wichtigsten politischen Ereignisse in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in den Vordergrund gerückt worden: den Zusammenbruch der kolonialen Hegemonie und den Sturz des Kommunismus. Die künstliche Weltordnung der vergangenen Jahrzehnte ist zusammengebrochen und eine neue, gerechtere Ordnung noch nicht hervorgetreten.
Die zentrale politische Aufgabe der letzten Jahre dieses Jahrhunderts ist dann also die Schaffung eines neuen Modells der Koexistenz zwischen den verschiedenen Kulturen, Völkern, Rassen und Religionen innerhalb einer einzigen zusammenhängenden Zivilisation. Viele glauben, dies sei durch technische Mittel zu bewerkstelligen – mittels der Erfindung neuer organisatorischer, politischer und diplomatischer Instrumente. Aber solche Bemühungen sind zum Scheitern verurteilt, wenn sie nicht aus etwas Tieferem hervorgehen, aus allgemeingültigen Werten.
Auf der Suche nach der natürlichsten Quelle zur Begründung einer neuen Weltordnung schauen wir gewöhnlich auf einen Bereich, der das traditionelle Fundament moderner Rechtlichkeit darstellt: auf jene Sammlung von Werten, die in diesem Gebäude zum ersten Mal verkündet wurden. Ich meine die Achtung vor dem einmaligen menschlichen Wesen und seinen oder ihren Freiheiten und unveräußerlichen Rechten, und ich meine das Prinzip, daß alle Macht vom Volke ausgeht. Ich beziehe mich auf die grundlegenden Gedanken der modernen Demokratie.
Aber auch diese Gedanken reichen noch nicht aus. Wir müssen weiter gehen und tiefer schürfen. Schließlich entstand ja gerade das Prinzip der unveräußerlichen Rechte, die der Schöpfer dem Menschen gewährt hatte, aus der typisch modernen Vorstellung, daß der Mensch, da zur Erkenntnis von Natur und Welt fähig, Krone der Schöpfung und Herrscher der Welt sei.
Dieser moderne Anthropozentrismus hatte unvermeidlich zur Folge, daß ER, der dem Menschen angeblich seine unveräußerlichen Rechte gewährt hatte, aus der Welt zu verschwinden begann. Die Existenz einer höheren Autorität als der Mensch selbst stand den menschlichen Bestrebungen mehr und mehr schlicht im Wege.
Der Gedanke menschlicher Rechte und Freiheiten muß ein integraler Teil jeder sinnvollen Weltordnung sein. Dennoch glaube ich, sie müsse ihr Fundament an einem anderen Ort finden und auf andere Weise, als dies bisher der Fall war. Paradoxerweise läßt sich die Inspiration für die Rückgewinnung dieser verlorenen Integrität vielleicht erneut in der Wissenschaft finden. Ich möchte zwei Beispiele anführen:
Das „anthropische kosmologische Prinzip“ bringt uns eine Vorstellung nahe, die vielleicht ebenso alt ist wie die Menschheit selbst, daß wir nämlich nicht einfach eine zufällige Anomalie darstellen, die mikroskopische Laune eines winzigen Teilchens, das durch die endlosen Tiefen des Universums wirbelt. Wir stehen vielmehr in einer geheimnisvollen Verbindung zum Universum, wir spiegeln uns darin, so wie sich die gesamte Entwicklung des Universums in uns spiegelt. In dem Augenblick, in dem es den Anschein hat, als stünden wir in einer engen Beziehung zum gesamten Universum, erreicht die Wissenschaft die äußeren Grenzen ihrer Möglichkeiten. Mit dem „anthropischen kosmologischen Prinzip“ findet sich die Wissenschaft auf der Grenzlinie zwischen Wissenschaft und Mythos. Damit jedoch kehrt die Wissenschaft auf einem Umweg zum Menschen zurück und bietet ihm seine verlorene Integrität. Das tut sie, indem sie ihn aufs Neue im Kosmos verankert.
Das zweite Beispiel ist die „Gaia-Hypothese“. Diese Theorie sammelt die Beweise dafür, daß das dichte Netz gegenseitiger Interaktionen zwischen den organischen und anorganischen Teilen der Erdoberfläche ein einziges System bildet, eine Art Meta-Organismus, einen lebenden Planeten, Gaia, benannt nach einer alten Göttin, die als Archetypus der Erdmutter in vielleicht allen Religionen aufscheint. Nach der Gaia- Hypothese sind wir Teile eines größeren Ganzen. Unser Geschick hängt nicht bloß davon ab, was wir für uns tun, sondern auch davon, was wir für Gaia insgesamt tun. Bringen wir sie in Gefahr, so wird sie sich im Interesse eines höheren Werts – des Lebens selbst – unserer entledigen.
Was verleiht dem „anthropischen Prinzip“ und der „Gaia-Hypothese“ ihre inspirierende Wirkung? Eine einfache Besonderheit: Es ist das Bewußtsein, in Erde und Universum verankert zu sein – das Bewußtsein, daß wir hier nicht allein sind, noch nur für uns allein leben, sondern einen integralen Teil höherer, geheimnisumwitterter Ganzheiten bilden, über den zu lästern nicht ratsam ist.
Dieses vergessene Bewußtsein ist verschlüsselt in allen Religionen enthalten. Kulturen antizipieren es in verschiedener Weise. Es gehört zu den grundlegenden Elementen des menschlichen Verständnisses von sich selbst, vom Platz des Menschen in der Welt und letzten Endes von der Welt als solcher. Dieses Bewußtsein verleiht uns die Fähigkeit, uns zu transzendieren.
Politiker auf internationalen Foren mögen tausendmal wiederholen, die neue Weltordnung müsse sich auf die universelle Achtung der Menschenrechte stützen – aber das bleibt bedeutungslos, solange dieser Imperativ sich nicht aus der Achtung vor dem Wunder des Seins ableitet, dem Wunder des Universums, dem Wunder der Natur, dem Wunder unserer eigenen Existenz. Nur wer sich der Autorität der universellen Ordnung und der Schöpfung unterwirft, wer das Existenzrecht als Bestandteil und Faktor dieser Ordnung bewertet, kann sich und seine Nachbarn wahrhaft schätzen und so auch ihre Rechte achten.
Die Unabhängigkeitserklärung, die vor 218 Jahren in diesem Gebäude verkündet wurde, hält fest, daß der Schöpfer dem Menschen das Recht auf Freiheit verleihe. Anscheinend kann der Mensch diese Freiheit nur realisieren, wenn er nicht vergißt, wer sie ihm gewährte.
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