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■ In den USA war diese WM ein voller ErfolgAdiós melting pot, viva el fútbol!

Ausverkaufte Stadien; höhere Einschaltquoten als beim Tennisturnier in Wimbledon; gute Spiele. Vor allem aber: Baggio. Zum ersten Mal in der US-Sportgeschichte hatte sich die amerikanische Presse in den Oberschenkelmuskel eines Fußballspielers hineinversetzt, hatte mitgelitten und mitmassiert und per Schaubild die genaue Beschaffenheit dieses Körperteils erklärt. Natürlich saß das Gros der Amerikaner an diesem Endspieltag am Strand, putzte den Wagenpark oder guckte Soap-operas, doch nach amerikanischen Maßstäben war diese WM ein voller Erfolg – nicht nur sportlich, sondern auch soziopolitisch: Noch nie haben sich die Immigranten des Landes so telegen bemerkbar gemacht: Samba auf der 46. Straße in Manhattan; italienische Trauer in Brooklyns Bensonhurst; Jubelfeier in den kalifornischen Koreatowns; lange Gesichter bei den Griechen in Boston; und wenn es noch einer Demonstration des Umstands bedurfte, daß der Süden der USA in den nächsten Jahrzehnten lateinamerikanisiert wird – die WM hat sie geliefert. Nieder mit dem melting pot, viva el fútbol!

Und jetzt? So schnell kann Baggios lädierter Schenkel (von der Seele ganz zu schweigen) gar nicht heilen, da ist das Spektakel in der Entertainmentgesellschaft mit Kurzzeitgedächtnis schon wieder vergessen. Wenn ein solch gigantischer PR-Gag wie die Weltmeisterschaft notwendig ist, um vor allem den weißen und schwarzen Amerikanern der US-Nation ins Gedächtnis zu bringen, daß man einen Ball elegant auf dem Fuß balancieren kann, anstatt stundenlang mit einem Holzknüppel auf ihn einzudreschen oder ihn durch ein Netz zu stopfen – dann stehen die Chancen für die geplante Profi-Liga ohne Stars und ohne TV-gerechte Dramen verdammt schlecht.

Da dürften auch nicht die zahlreichen Werbespots geholfen haben, die Soccer als Macho-Sport präsentiert haben, bei dem mann ebenso schnell eins aufs Maul kriegen kann wie im Football oder Eishockey. Der brutale Ellbogenstoß gegen den Kopf des US- Spielers Tab Ramos und die Freistoßmauern, bei der mann das wichtigste an ihm schützt (nein, nicht den Oberschenkel), dürften so unter den Millionen Football-Fans den stärksten Eindruck hinterlassen haben.

Womit wir beim eigentlichen Ärgernis dieser WM angelangt wären: der Feigheit der FIFA und des amerikanischen Fußballverbandes, die Perzeption des Fußballs in den USA als Vorteil und nicht als Schande anzusehen: als Alternative zum Kriegsspiel auf dem Footballfeld, zur Keilerei auf dem Eis und zum Machogehabe der Zwei-Meter-Riesen auf dem Basketball-Court. Fußball ist in den USA unter Frauen mindestens ebenso populär wie unter Männern. Während die US-Männermannschaft sich mühsam in die zweite Runde gerettet hat, sind die US-Frauen Weltmeisterinnen. Das fand keinerlei Erwähnung. Andrea Böhm, Washington

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