: Dem Nachbarn auf Gedeih und Verderb ausgeliefert
■ Eine Million Menschen flohen in den letzten Tagen aus dem ruandischen Kriegsgebiet über die Grenze, zu Hunderttausenden drängeln sie sich im zairischen Grenzort Goma. Ein idealer ...
Eine Million Menschen flohen in den letzten Tagen aus dem ruandischen Kriegs-
gebiet über die Grenze, zu Hunderttausenden drängeln sie sich im zairischen Grenzort Goma. Ein idealer Fluchtort ist Zaire, dessen Bevölkerung selbst unter Armeewillkür und Wirtschaftskollaps leidet, dabei wahrlich nicht. Die humanitären Organisationen sind angesichts der Größenordnung des Problems überfordert.
Dem Nachbarn auf Gedeih und Verderb ausgeliefert
Der Krieg in Ruanda ist vorbei. Die Ruandische Patriotische Front (RPF) kontrolliert, von der französischen Schutzzone im Südwesten abgesehen, das ganze Land und schickt sich an, von einer Rebellenbewegung zur Regierung zu werden. Aber im Grunde ist der Krieg in dem ostafrikanischen Land überhaupt noch nicht vorbei. Das Flüchtlingsdrama um den zairischen Grenzort Goma ist die apokalyptische Fassade für einen sich vertiefenden und ausweitenden Konflikt.
Eine Million Menschen flohen in den letzten Tagen aus dem ruandischen Nordwesten über die nahe Grenze – Goma und Gisenyi, letzter Sitz der einstigen ruandischen Regierung, liegen in unmittelbarer Nachbarschaft am Kivu-See, nur durch einen hundert Meter breiten Grenzstreifen getrennt. Die RPF hatte letzte Woche beständig an Terrain gewonnen, in der Nacht zum Donnerstag die Garnisonsstadt Ruhengeri eingenommen und am Sonntag nachmittag auch Gisenyi.
Aber die Menschen flohen nicht einfach vor den vorrückenden Rebellen. Die lokalen Behörden der einstigen Regierung haben vielmehr, glaubt man Aussagen von Flüchtlingen, den Massenexodus planmäßig organisiert. „In der Nacht vom Dienstag auf Mittwoch fuhren Lautsprecherwagen durch die Stadt und befahlen der Bevölkerung, nach Zaire zu gehen“, erzählte eine Flüchtlingsfrau dem Reporter von Le Monde. „Die Militärs schossen in die Luft, um die Bevölkerung einzuschüchtern. So sind wir gegangen. Aber ich weiß genau, daß die Soldaten und die Milizionäre gelieben sind, um die Häuser zu plündern und zu zerstören, wie sie es schon anderswo gemacht haben.“ Die Plünderungen fanden am Samstag tatsächlich statt.
Eine erzwungene Flucht also, der Auszug der Bevölkerung Nordwest-Ruandas? Zu Hunderttausenden drängen sich Ruander als ungeliebte Gäste im zairischen Goma und über mittlerweile Dutzende von Kilometern auf der nach Norden führenden Straße. Unter ihnen sollen sich 2.400 Ex-Soldaten befinden, teils mit schweren Waffen, die sie nach Augenzeugenberichten ins zairische Landesinnere schaffen – was die etwa 4.000 im April vor der ruandischen Armee nach Goma geflohenen ruandischen Tutsis zur erneuten Flucht bewogen hat. Zairische Soldaten – die seit Jahren nicht mehr regulär bezahlt werden – sahnen ab: Sie nehmen den Ruandern Gewehre ab und verkaufen sie ihnen dann wieder zurück. Oder sie stehlen den Flüchtlingen, die oft mit ihrem gesamten Hausrat umherziehen, ihre Wertsachen und lassen die Einheimischen am unverhofften Gütersegen teilhaben. Die seit Freitag durch drei zusätzliche Kompanien verstärkte zairische Armee in Goma führt der Welt vor, was Zaire unter der Diktatur Mobutu Sese Sekos ist: ein Diebesstaat. Der Gouverneur von Goma, Christophe Moto Mupenda, zuckt bedauernd die Achseln: Seine Gefängnisse, sagt er, sind schon voll. Zaire, dessen unter Armeewillkür und Wirtschaftskollaps leidende Bevölkerung selbst Hilfe brauchen könnte, ist kein idealer Fluchtort. Auch Hilfskonvois sind bereits angegriffen worden. Bewaffnete haben Fahrzeuge des UNHCR auf der Straße gestoppt, um die Helfer zur Herausgabe von Lebensmitteln zu zwingen. Panos Moumtzis vom UNO-Flüchtlingshilfswerk: „Es ist ein Sicherheitsalptraum.“ Vor allem die UNO drängt darauf, daß der Alptraum bald zu Ende geht. „Angesichts der chaotischen Verhältnisse in den Nachbarländern versichere ich der geflohenen Bevölkerung, daß sie in Ruanda nichts von den Rebellen der Patriotischen Front zu befürchten hat“, hörten die Ruander am Sonntag aus ihren Radiogeräten – und es war kein RPF-Politiker, der dies sagte, sondern Michel Moussali vom UNHCR. Seine Chefin, die Hochkommissarin Sadako Ogata, ist kategorisch: „Es ist für humanitäre Organisationen unmöglich, mit einem Zustrom dieser Größenordnung und Geschwindigkeit fertigzuwerden, wenn es keinen Waffenstillstand gibt und diesen Menschen nicht versichert wird, sie könnten nach Hause zurückkehren oder in Sicherheit zu Hause bleiben“, sagt sie. „Wir brauchen die politische Lösung, weil es keine humanitäre Lösung einer Krise dieses Ausmaßes gibt.“
Ein Wink mit dem Zaunpfahl an die beiden verbliebenen Kriegsakteure Ruandas: die RPF und die Franzosen. Die eingeforderte „politische Lösung“ ist gestern mit dem von der RPF verkündeten Waffenstillstand und der anstehenden Regierungsbildung in Kigali nähergerückt. Ob das von Dauer ist, hängt jedoch nicht von der RPF allein ab. Sie knüpfte bisher einen Waffenstillstand an die Bedingung, daß die Mitglieder der mehrheitlich ins südwestliche Cyangugu unter französische Schutzzonen-Fittiche geflohenen Ex-Regierung verhaftet werden. Frankreichs UNO-Botschafter hat erklärt: Verhaften werden wir sie erst, wenn die UNO es uns sagt. Aus Paris kommt die an alle Seiten gewandte Drohung, man werde „keine politische und militärische Aktivität“ in der Schutzzone dulden. RPF-Kommandant Paul Kagame drängt derweil: „Die Franzosen werden uns nicht aufhalten. Wir werden in die Schutzzone eindringen, wenn nötig.“
Eine explosive Lage, die nicht dadurch entschärft wird, daß die RPF bei der Einnahme Gisenyis auch Goma beschossen hat, daß jetzt französische Soldaten um Goma Stellung bezogen haben und daß zugleich einige der nach Goma geflohenen Ex-Regierungssoldaten verkündet haben, als Guerilleros nach Ruanda zurückzukehren. Wie soll verhindert werden, daß Zaire, dessen Präsident Mobutu mit den einstigen ruandischen Herrschern eng befreundet war, zum nächsten Aufmarschgebiet der ruandischen Mörder wird? Und wer soll den „Sicherheitsalptraum“ in Goma beenden? Noch steht eine formelle Ausweitung der Militäraktivitäten Frankreichs nicht zur Debatte. Wie lange noch? Dominic Johnson
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