■ 50 Jahre nach dem 20. Juli: Fahnenflucht ehren!
Da die bewaffnete Macht von Wehrmacht und Polizei mit ihren paramilitärischen Verbänden in den zerbombten Städten auf den Endsieg Großdeutschlands setzte, hielten sich die Nazis bis zur totalen Niederlage an der Macht. Widerstand, der sich in kleinen politischen, gewerkschaftlichen, kirchlichen und privaten Zirkeln bildete, konnte auf keinem Wege nach oben zur Führungsspitze durchschlagen. Erfolge konnten sich nur diejenigen mit einiger Wahrscheinlichkeit ausrechnen, die unmittelbaren Zugang zu den Zentren der Macht hatten. Graf von Stauffenberg ist am 20. Juli 1944 diesen Weg ins Führerhauptquartier gegangen und hat dort einen Sprengsatz gezündet, der aber sein Hauptziel verfehlte. Hitler, der leicht verletzt überlebte, reagierte darauf wie ein verwundetes Raubtier und wütete im Blutrausch unter seinen inneren Feinden, derer er habhaft werden konnte.
Bei der Würdigung des Widerstandes, kann es nicht angehen, daß aus dem „Traditionsverständnis der Bundeswehr“ heraus fast nur die Taten der „Männer des 20. Juli“ ins Blickfeld gerückt und nur sie öffentlich geehrt werden. Es geht um die Hervorhebung des von Zivilcourage gegen ein militärisch abgesichertes totalitäres Regime gekennzeichneten Handelns überhaupt.
Eine Tat wie der vorsätzlich geplante Tyrannenmord an Adolf Hitler hat ja seine Vorgeschichte. Frauen und Männer, die an der Planung beteiligt waren, handelten schon Wochen und Monate vorher anders als sie dachten. Auf jeden Fall hatten die Offiziere längst vor dem Anschlag innerlich ihren Fahneneid gebrochen. Ihr Ziel, den Völkermordvollstrecker zu beseitigen, schloß Fahnenflucht vor der Hakenkreuzfahne ein. Ihr Handeln ist in dieser Frage durch jede Bundesregierung gerechtfertigt worden. Diese moralische Rehabilitation hat jede/r verdient, der/die auf seine Weise mit seinen Möglichkeiten die Nazimacht destabilisieren half, ob es nun die Geschwister Scholl, der Leipziger Oberbürgermeister Carl Goerdeler oder andere waren.
Dies muß auch für diejenigen gelten, die die Truppe rechtzeitig verlassen haben, die also fahnenflüchtig wurden, als sie die Gefolgschaft nicht mehr mit ihrem Gewissen vereinbaren konnten. Es war die konsequenteste und wirksamste Weise, als Soldat nationalsozialistische Wehrkraft zu zersetzen. Kündigen konnte er ja nicht! Ein einfacher oppositioneller Soldat hat keinen Zugang zu Befehlszentralen. Der Grad seiner Gewissensnot, nicht länger dienen zu wollen, hängt aber nicht vom militärischen Dienstgrad ab!
Es ist unredlich und anmaßend zugleich, höheren Offizieren die größere Einsicht in ihr staatspolitisches Tun – Untreue gegen „Führer, Volk und Vaterland“ in Tateinheit – zuzubilligen, dem Soldaten aber abzustreiten. Seine Untreue gegenüber der Kriegsfahne eines europäischen Eroberungskrieges von 1939-1945 soll als strafwürdige Unkameradschaftlichkeit gelten. Ehrlos sollen seine Tat und er selbst gelten – bis auf den heutigen Tag. Und wenn weiter Bundestagsabgeordnete davon reden, daß im Gegensatz zu Deserteuren andere deutsche Soldaten „den Kopf hingehalten hätten“ und „bei der Stange geblieben wären“, dann zeigt das mir, welche Aufklärung und welcher politische Kampf für alle, die sich auf ihre Weise in Hitlers Eroberungs- und Vernichtungskriegen widersetzt haben, den Schwerpunkt im 50. Jahr danach bilden könnten.
Rudolf Prahm
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