„Wi Kinner weern unsichtbar“

■ Vom vergessenen Widerstand gegen die Nazis in Norddeutschland / „Blaues Band“, „Störenfried“, Sabotagegruppen / Flugblätter am Kasernentor Von Kay Dohnke

un werden sie gefeiert: Stauffenberg und seine Mitverschwörer gegen die Nazi-Diktatur, aufrechte Kirchenmänner und Vertreter des Bürgertums, die sich gegen Hitler auflehnten. Ein halbes Jahrhundert nach dem Versuch, den „Führer“ mitsamt seiner „Wolfsschanze“ wegzusprengen, rühmen nachgeborene Politiker die damalige Zivilcourage – einiger weniger. Vergessen, verdrängt, verschwiegen wird das Aufbegehren, das Nicht-Mitmachen all derer, mit denen sich zu identifizieren der wiedervereinten Öffentlichkeit schwerfällt. Widerstand gegen Hitlers Staat war aber schon früh und sehr lange die Sache von Kommunisten und Gewerkschaftern, von Jugendlichen und kleinen Leuten. Ein Blick in die Geschichte zeigt einige ihrer Aktionen – die meisten blieben aber ohne dauerhafte Spur.

So wenig der Nazi-Terror erst 1933 anfing, so wenig setzte auch der Widerstand erst mit Hitlers Machtantritt ein: Sozialdemokraten, Kommunisten und Gewerkschafter und ihre Frauen-, Jugend-, Kultur- und Sportgruppen wichen der Auseinandersetzung mit den Nazis nicht aus. Oft wurde dabei auf Worte mit Taten reagiert, für linke Flugblätter gab es rechte Gewalt, bis auf beiden Seiten die Faust locker saß. Wer durch unerschrockene Haltung auffiel, lebte nach 1933 gefährlich – so der Hamburger Klempnerlehrling Bruno Tesch. Als aktives Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend geriet er im Juli 1932 in die Wirren des „Altonaer Blutsonntags“, einer von Rechts provozierten Straßenschlacht, die 18 Tote und 60 Verletzte forderte.

Bruno Tesch blieb während der Kämpfe passiver Beobachter – nur einer verletzten Frau hätte er besser nicht helfen sollen: Er wurde dabei verhaftet, doch mangels Beweisen wieder entlassen. Vorerst jedenfalls. Denn 1933 setzten die Nazis ein Sondergericht ein, und nun mußte Bruno für seine Haltung büßen: Ein Schauprozeß verurteilte ihn und drei andere Männer zum Tode.

Pläne für Aktionen gegen Hitlers Regime wurden Anfang 1933 überall geschmiedet, aber fast nirgendwo durchgeführt. In Uetersen lag in der Nacht auf den 31. Januar das bewaffnete Reichsbanner zum Angriff bereit – das zentrale Kommando zum Losschlagen blieb jedoch aus. Zahlreiche versteckte Gewehre und Pistolen in Kieler Schrebergärten verrosteten bis zur Unbrauchbarkeit: Ihre Besitzer merkten bald, wie brutal die SA gegen Andersdenkende vorging. Die Angst vor unkalkulierbaren Risiken wuchs.

Nachdem sich die neuen Herrscher etabliert hatten, wurden andere Oppositionelle aktiv: Widerstand ging nicht mehr von den Funktionären der verbotenen Parteien, sondern von deren Nachwuchs aus. In Lübeck bildete sich eine illegale Reichsbannerorganisation, die bis zur Zerschlagung 1935 mit Flugblättern und der Schrift Der Störenfried aufklärerische Arbeit leistete. Volksfrontcharakter hatte die Lübecker überparteiliche Revolutionäre Arbeiterjugend, deren Agitation in Schulen und Betrieben, ja sogar in der Marine-HJ durch Verhaftungswellen im Oktober 1935 bzw. Januar 1936 ein Ende fand.

Eher spontan waren die Aktionen einer vergessenen Widerstandsgruppe in Heide: als 1933 auch die sozialistischen Falken verboten wurden, blieben einige der Mitglieder zusammen, sieben, acht halbwüchsige Mädchen und Jungen. Als Kinder von aktiven SPD- oder KPD-Angehörigen hatten sie das Vorgehen der SA gegen Andersdenkende bei Verhaftungen und Beschlagnahmeaktionen miterlebt. Und sie wehrten sich auf ihre Weise: Unter dem Decknamen Das blaue Band zogen sie bis ins Jahr 1934 hinein gelegentlich des Nachts durch die Stadt und hinterließen ihren Protest als Graffiti: „Nazis raus“ - vor 60 Jahren. Den NS-Funktionären war völlig unklar, daß diese Aktionen von Jugendlichen ausgingen – und die hatten daher auch kaum Angst vor Verfolgung: „Wi weern ja nu unsichtbar as Kinner, uns hebbt de Nazis dat ja nich totrut,“ erinnert sich Maria Jürgens, eine der Beteiligten.

Die Zerschlagung der alten Partei- und Verbandsstrukturen zusammen mit dem häufigen Auffliegen illegaler Neuorganisationen ließ die Möglichkeiten zu taktisch geplantem Widerstand gering werden. Und je reibungsloser die Überwachung der Bevölkerung bis hin zur Blockwartsebene funktionierte, um so riskanter war es bald, selbst in der „kleinen“ Öffentlichkeit seine Meinung zu sagen: Die Gestapo hatte viele freiwillige Denunzianten. War es schon Widerstand, wenn der Kieler Zigarrenhändler Hugo Müller Beiträge zu den staatlichen Wohlfahrtssammlungen verweigerte, da das Geld ja doch nur fürs „Kugeldrehen“, also für den Krieg ausgegeben werde? War es Widerstand, wenn seine Frau Bertha den Hitler-Gruß ablehnte mit der Begründung: „Guten Tag. Das ist immer noch der deutsche Gruß, und diesen Gruß hat ja noch niemand verboten!“ 1942 jedenfalls kamen die Eheleute Müller wegen „staatsfeindlicher Betätigung“ vor Gericht und wurden zu Geldstrafen verurteilt.

Weniger glimpflich waren die Folgen für den Itzehoer Maurermeister Julius Legband, der mit Briefen an die Reichskanzlei und Flugblättern die Wahrheit über Hitler und die Kriegsvorbereitungen verbreitete. Den Ersten Weltkrieg hatte er noch als überzeugter Streiter für Kaiser und Vaterland in den Schützengräben zugebracht und sich auch in den Folgejahren eher unpolitisch um sein kleines Bauunternehmen gekümmert. Die Beteiligung am Neubau der Itzehoer Kasernen nahm er als willkommenen Auftrag gern mit.

Irgendwann in den späten dreißiger Jahren aber muß Julius Legband den wahren Charakter der NS-Diktatur erkannt haben – und er wurde aktiv. Anonyme Briefe an Hitler und Goebbels halfen nur kurzfristig als Ventil für den wachsenden Unmut, dann wendete er sich an seine Mitbürger. „Das Dritte Reich will euch zu Sklaven machen, auch wollen sie euch wieder in einen Krieg reinjagen. Seid wache!“ So stand es 1939 auf einem Zettel, der am Kasernenzaun hing. Wenige Wochen nach Kriegsbeginn meldete eine Botschaft an einem Gartenzaun: „Der Lügner und Verbrecher Hitler und seine Genossen haben die Schuld an dem Morden und Hinschlachten aller armen und unschuldigen Menschen. Fort mit diesen Volksbetrügern!!!!“ Und Anfang 1940 las man am Finanzamt folgende Worte: „Deutsche Frauen und Männer, hier die Wahrheit!! Wer sind die Kriegsschuldigen? Wer sind die Mörder, Räuber und Banditen? Nur Hitler und seine Nazis!!!“

Nicht lange konnte Legband die Itzehoer auf diese Weise aufklären, dann wurde auch er denunziert und wegen Hochverrats vor Gericht gestellt. Dem Todesurteil entging er, da ein mitfühlender Gutachter ihn für unzurechnungsfähig erklärte und in eine Heilanstalt einwies. Die Gerichte der Bundesrepublik verweigerten ihm später genau aus diesem Grund eine Wiedergutmachung: Ein Irrer könne schließlich nicht politischen Widerstand geleistet haben...

Je stärker der Krieg das Alltagsleben veränderte, desto schwieriger wurden die Möglichkeiten für organisierten Widerstand – und desto größer die Notwendigkeit dazu. Nach einer sechsjährigen Lagerhaft kehrte 1940 der Mechaniker Bernhard Bästlein nach Hamburg zurück. Bereits im KZ Sachsenhausen hatte er andere Häftlinge für die Beteiligung an einer Widerstandsgruppe gewonnen. Mit Franz Jacobs, Oskar Reincke, Robert Abshagen und anderen gründete er bald Betriebszellen und baute eine umfangreiche Untergrundorganisation auf. Bevor es zu ersten Aktivitäten kam, denunzierten Spitzel die Gruppe. Die Beteiligten standen 1944 in den sog. Hamburger Kommunistenprozessen vor Gericht und wurden zum Tode verurteilt; Bernhard Bästlein – zusammen mit Jacobs in Berlin verurteilt – starb am 18. September 1944 unter dem Fallbeil.

Widerstand im Krieg. Zu erinnern wäre an den Lübecker Sozialdemokraten Ohlrogge und seine Gruppe, deren Sabotagepläne im März 1945 aufflogen, an die Solidarisierung mit Zwangsarbeitern durch Bernhard Scoor in Kiel; auch er bereitete den gewaltsamen Umsturz vor. Zu erinnern wäre an viele andere, an historisch namenlos gebliebene, deren privates Handeln nicht auffiel, aber – als Fluchthelfer, beim Transport illegaler Schriften, im Kontakt mit Gefangenen und Zwangsarbeitern, durch Sabotageakte – Haltung und Zielen des Hitlerregimes zuwiderlief. Oft mußten sie dafür einen hohen Preis zahlen. Aus diesem Teil deutscher Geschichte ist das meiste wohl für immer vergessen – und selbst von dem wenigen, was dokumentiert blieb oder sich rekonstruieren läßt, paßt kaum etwas in den Vorzeige-Widerstand der Gegenwart...