: Vom beschleunigten Verlust der Stadt
Nicht nur im Krieg: Ein Fotoband mit Luftaufnahmen zeigt die unentwegte Zerstörung Berlins ■ Von Rolf Lautenschläger
Fotografien aus der Luft lassen die Dinge auf der Erde entfernt, oft klein erscheinen. Doch die Distanz zwischen dem Kameraauge und dem Objekt muß keineswegs zu Unschärfen führen. Im Gegenteil. Aus der „Vogelperspektive“ gewinnen die Dinge an Klarheit. Nicht umsonst beschert der Blick die „Übersicht“ von einem hohen Turm herab. Luftbilder, gemacht aus der Perspektive von Flugzeugen oder Satelliten, heißen „Aufklärungsfotos“; militärisch nutzbar nicht zuletzt deshalb, weil sie die verletzlichen Punkte der Topographie und Infrastrukturen bloßlegen. Die Wahrnehmung und Erkenntnis der irdischen Dinge in Augenhöhe hat sich zugunsten oder besser zuungunsten ihrer kalten Betrachtung gewandelt. Die dritte, neu überarbeitete und erweiterte Auflage des Fotobandes „Berlin aus der Luft. Zerstörung einer Stadt 1903 bis 1993“ – herausgegeben und mit einem Essay gestützt von Richard Schneider – zeugt vom Charakter jener nüchtern-kalten Meßbild-Ästhetik, die den Wandel klaglos dokumentiert. Kühl wird bilanziert, daß die Stadt an der Spree mit ihrer Bausubstanz schon immer leichtfertig umgegangen ist. „Es gibt fast nichts Altes mehr in Berlin“, schrieb der französische Reiseschriftsteller Jules Huret zu Beginn des Jahrhunderts. Auch Karl Schefflers oft zitierter Satz, daß Berlin dazu verdammt sei, „immerfort zu werden und niemals zu sein“, hat sich gleich mehrfach – und bis heute – bewahrheitet: Nach den „Neugestaltungsmaßnahmen“ Albert Speers, den Zerstörungen durch die Bomben im Zweiten Weltkrieg, den Abriß- und Sanierungs- und „Wiederaufbauorgien“ der sechziger und siebziger Jahre in West- wie in Ostberlin gleichermaßen droht der Stadt nach dem Fall der Mauer durch bauliche Hasardeure und Regierungskolosse jetzt die „vierte Zerstörung“. Die Bilder gleichen sich: Schon um 1900 blieb in Berlin kaum ein Stein auf dem anderen. Aus der Vogelperspektive des Fesselballons und der ersten Flugzeuge fotografiert, beobachtete die Kamera über Jahre, wie sich das unordentliche Puzzle der feudalen Preußenresidenz ins steinerne Häusermeer der klaren Linien, Blöcke, Häuser und Fassaden auflöste. Im gleißenden Mittagslicht wird eine Metropole enthüllt, die nichts mehr gemein hat mit der biedermeierlichen Stadt der Romantiker. Hervor treten das alte Schloß als Anachronismus in der Großstadt oder der barocke Leipziger Platz in der kapitalistischen Fassung der Warenhäuser und die Mietskasernen neben den Stadtparks: groß, städtisch, steinern. Von dieser Zeit der Stadtwerdung zwischen der wilhelminischen Epoche und dem Zweiten Weltkrieg springt der Fotoband immer wieder in die Gegenwart und stellt die historischen Bilder dem heutigen Zustand gegenüber. Das Stadtschloß in den zwanziger Jahren und der Palast der Republik 1993, der Potsdamer Platz 1931 und 1963, der Askanische Platz 1910 und die Platzleere mit der Portalruine des Anhalter Bahnhofs 1966, die Hinterhofghettos und die flächensanierte, zerstörte Stadt. Und dieser Zeitsprung läßt die letzten Jahrzehnte als beschleunigten Verlust erleben.
Wie wenig Stadt Berlin in den sechziger Jahren war, signalisieren die Fotos nicht nur durch die Abwesenheit von Häusern und die Anwesenheit der Leere. Auch die Geschäftigkeit einer Metropole scheint der Stadt abhanden gekommen, wirken doch die Straßen und Flächen menschenleer, als ob sich mit dem Weggang vieler Berliner in den sechziger Jahren die Stadt regelrecht entvölkert hätte. Diese Leblosigkeit steigert die Kälte der Dokumente und korrespondiert mit der Melancholie des Herausgebers, der im Berliner Sand nichts Bestehendes findet. „Wie die Stadt in keiner Geschichte wurzelt, so ist die Geschichtsvergessenheit ein Merkmal ihrer Bewohner.“ Selbst die Mauer, schreibt Schneider am Ende, die über 28 Jahre die Stadt teilte, sei schon bis auf wenige Reste verschwunden. „Man will sich an nichts erinnern.“ Die Verluste gehen weiter.
Richard Schneider (Hrsg.): „Berlin aus der Luft – Zerstörungen einer Stadt 1903-1993“. Berlin: Nicolai-Verlag, 84 Seiten, 73 Abbildungen, 58 Mark.
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