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Schopper, Sliemer, Hohlhipper

Vor der Arbeit verschwanden die Berufe. Eine kleine Führung durch die Welt der untergegangenen Arbeit  ■ Von Harry Nutt

Bald nach der Übernahme durch einen westdeutschen Verlag war Dieter K. (34, gelernter Schriftsetzer) aus den Diensten einer großen Ostberliner Tageszeitung in die Arbeitslosigkeit entlassen worden. Eine Rückkehr in den Beruf wird es für ihn auch dann nicht geben, wenn sich die Marktlage verbessert. Dieter K. hat nicht nur seine Arbeit, sondern auch seinen Beruf verloren. Textverarbeitung, DTP und Fotosatz haben den Spezialisten aus dem Druckgewerbe weitgehend verdrängt. Molkereimeister Paul T. (52) kann bei seiner Arbeit ebenfalls auf die meisten der während seiner Ausbildung erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten verzichten. Bis zur Rente wird er voraussichtlich in einer Milchpulverfabrik arbeiten, die im Grunde keine gelernten Molkereimeister benötigt. Einige hundert ländlicher Molkereien sind in den vergangenen Jahren geschlossen worden. Die an ihre Stelle getretenen milchverarbeitenden Industriebetriebe bilden Ingenieure und Lebensmittelchemiker aus. Der klassische Molkereimeister, der mit seinem Wissen über Säure- und Pilzbildung, Fettgehalt und Reifungsprozesse die verschiedenen Milch- und Käsesorten allein mit dem Tierprodukt und Zeit hervorzubringen vermochte, wird nicht mehr gebraucht. Das sind nur zwei Beispiele von einer leicht verlängerbaren Liste aussterbender Berufe unserer Tage. Die Furie des Verschwindens war seit jeher auf den Spuren der gesellschaftlichen Arbeit.

Einen Thesaurus (von gr.-lat. Schatz: wissenschaftliche Sammlung) der untergegangenen Berufe nennt Rudi Palla seine sozialgeschichtliche Rekonstruktion des Handwerks und der Dienste im gesellschaftlichen Wandel. Einen besseren Platz als die von Enzensberger herausgegebene „Andere Bibliothek“ hätte es für das liebevoll angelegte Brevier nicht geben können. Wie ein feierliches Nachwort liest sich der für diese Reihe charakteristische Zusatz: „Dieses Buch wurde in der Buchdruckerei Greno in Nördlingen auf der Korpus Sabon Monotype gesetzt und auf einer Condor-Schnellpresse gedruckt.“ Im Bleisatz, versteht sich.

„In der Setzerei lagen die vom Schriftgießer gebrauchsfertig gelieferten Lettern oder Typen im Setzkasten, der für Fraktur (deutsche Schrift) etwa hundertzehn, für Antiqua (lateinische Schrift) etwa hundertsechzig Fächer hatte. (...) Um den Schriftsatz auszuführen, stand der Setzer vor dem auf einem Pult, dem Setzregal, schräg ansteigenden Setzkasten, in dem die Typen so eingelegt waren, daß die am meisten gebrauchten sich seiner Hand am nächsten befanden. In der linken Hand hielt er den Winkelhaken, der durch ein verschiebbares Winkelstück auf die Satzbreite gestellt war, und reihte in ihm nach dem vorliegenden Manuskript seitenverkehrt eine Type an die andere, bis die Zeile voll war; (...)“ Klar, daß auch der Kritiker sofort unter den Vorläufern seines Gewerbes nachschaut.

Ein Buch also für Sentimentalisten und Nostalgiker, ein nützliches Nachschlagewerk für Gewerkschafter im Kampf gegen Rationalisierungen? Ja, und sehr viel mehr. Der zappende Leser – wer liest schon ein Lexikon von A bis Z? – erfährt beispielsweise, daß der Hohlhipper, ein Hausierer mit röhrenförmigem Gebäck aus Oblatenteig, von den Mitmenschen meist respektlos behandelt wurde. Dieser rächte sich durch eine stark ausgeprägte Neigung zur Schmähsucht, weshalb das Verb „hohlhippen“ als ungebräuchliches Synomym für lästern und spotten gelten kann. Der Thesaurus der Berufswelt erweist sich so als etymologische Fundgrube und als ein Nachschlagewerk für Namenskundler.

Immer wieder ist Palla um die Abbildung der sozialen Stufenleiter bemüht, auf der die Berufe rangierten. Geringes Ansehen genossen beispielsweise die Kastrierer (auch Gelzer, Gelzenleichter, Sauschneider, Nonnenmacher), welche sich auf den Kunstgriff verstanden, weiblichen Tieren die Eierstöcke und männlichen die Hoden zu entfernen. Eine rechtliche, aber letztlich nicht vollkommen gelingende soziale Rehabilitierung, wird 1699 in Österreich per Dekret durchgesetzt, man billigte ihnen Zunftfähigkeit zu. Rituellen Ursprungs, war später dann auch die wirtschaftliche Bedeutung der Kastrationskunst erkannt worden. Ein ebenfalls wichtiger Beruf im Umgang mit Tieren war der Musfallskrämer. Er fertigte aus ein wenig Holz und Draht die heute noch handelsüblichen Mausefallen.

Aus der alphabetischen Anordnung der vergessenen Berufe geht hervor, auf was es dem Autor ankommt. Statt historischer Datengenauigkeit, politischer Situation und regionaler Besonderheit legt er bei jeder neuen Berufsbezeichnung Wert auf die Stellung des Menschen zu seiner Arbeit. Nicht zufällig bezeichnet das Wort Stellung das Arbeitsverhältnis und die soziale Position zugleich. Die Berufsnamen verweisen auf ein Weltverständnis, in dem Arbeit nicht nur zweckrationale Tätigkeit für den Lebensunterhalt ausmachte, sondern zugleich Wesensmerkmale abbildete. Palla spürt zahlreiche Homologien zwischen Tun und Sein auf. „Das Erscheinungsbild der in ihrem ,Reich‘ herumziehenden Lumpensammler war meist erbärmlich; (...) Ihre Tätigkeit wurde lange Zeit als unehrliches Gewerbe diskriminiert, man beschimpfte sie als Haderlumpen und überschüttete sie mit unflätigen Worten, wenn sie beispielsweise ihre stinkenden Hadern irgendwo zum Trocknen ausbreiteten. Sie standen unter den Lumpenreißern an letzter Stelle der Papiermacherhierarchie und gehörten eigentlich gar nicht zum Handwerk, obwohl sie eine so wichtige Tätigkeit ausübten.“

Goldenen Boden hatte Handwerk nie voraussetzungslos unter sich, es war vielmehr widerspruchsvoll eingebettet in komplexe Klassensysteme, die jahrhundertelang mühselige, oft ertragsarme Arbeiten forderten, von denen viele erst vom 19. Jahrhundert an als menschenunwürdig bezeichnet wurden.

Das Verschwinden von Arbeit war nicht selten auch mit sozialem Fortschritt verbunden, oft jedoch ging es einher mit dem Verlust gesellschaftlichen Könnens und Wissens. Aus diesem Grunde ist Rudi Pallas Thesaurus auch ein Stück Mentalitätsgeschichte, in der sich sozialgeschichtliche Essays mit kurzen Begriffserläuterungen zu einem außerordentlichen Lesegenuß verbinden. „Rosogliobrenner standen in arger Konkurrenz mit den Apothekern, denn sie destillierten aus Wein ebenfalls das wunderbare Wasser, das Kardinal Vitalis de Furno zum Allheimittel gegen jede Krankheit erklärte. (...) Sie hatten vor allem in Zeiten von Pest und Cholera Konjunktur, weil man erkannt hatte, daß Wasser krank machen konnte, Alkohol aber nicht.“

Ohne eine ausdrückliche methodologische Standortbestimmung vorauszuschicken, bewegen sich die Texte in der Denkungsart von Forschern wie Aries und Duby, Braudel, Elias und Corbin, auf deren Quellen sich der Autor häufig bezieht. Aus dem von Palla aufbereiteten Material läßt sich folgern, daß das heutige Berufesterben nicht allein eine lineare Fortsetzung eines immer schon stattfindenden Wandels ist. Die fundamentale Veränderung hat Willy Brandt einst in eine Wahlkampfformel umzumünzen versucht. Er könne nicht garantieren, daß jeder seinen Arbeitsplatz behalten werde. Er werde dafür Sorge tragen, daß jeder einen habe. Daraus wird und wird bekanntlich nichts, trotz der beschwörenden Aufschwungsgesänge. Einige Jahre nach der Brandtschen Parole mußte auch das heitere Beruferaten „Was bin ich?“ dran glauben. Beim Wettlauf um jene Viertelstunde Berühmtheit für jedermann kommt es nicht darauf an, was man ist, schon gar nicht ein Leben lang.

Rudi Palla: „Verschwundene Arbeit. Ein Thesaurus der untergegangenen Berufe“. Eichborn-Verlag 1994, 448 Seiten, 48 DM

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