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Keine Bange vor der Berliner Republik!

Der Schlaf des Souveräns gebiert Verfassungskommissionen / Es gibt auch ein unveräußerliches Recht des Volkes, alles beim alten zu belassen / Der vorläufig letzte Sammelband zur Diskussion ums Grundgesetz  ■ Von Horst Meier

Die Lehre von der Einheit und Unteilbarkeit der Souveränität geht auf Jean Bodin zurück. Was im 16. Jahrhundert zur Begründung der überlegenen Macht des Fürstenstaates entwickelt wurde, ging unverändert auf die Nation und dann auf das Volk selbst über. Dessen „konstituierende Gewalt“ wird seitdem als schrankenlos gedacht: Die Volkssouveränität, gleichsam eine Naturgewalt, kann jederzeit hervorbrechen. Weil sie sich durch die Setzung einer Verfassung nicht verbraucht, wird sie auch von dieser nicht gebunden, sondern schafft, wann immer sie will, neues Recht – in historischen Umwälzungen und Brüchen.

Da nun Revolutionen in Deutschland eigentlich nicht vorkommen, und wenn, dann irgendwie keine richtigen sind, werden neue Verfassungen eher in Paulskirchen diskutiert, was weitgehend folgenlos bleibt. Oder sie werden nach gewonnenen (1871) beziehungsweise verlorenen (1949) Kriegen gestiftet. Die ostdeutsche Revolution hat das Verhältnis von Souveränität und Verfassung auf originelle Weise variiert: Souverän war allein der Abbruch der DDR. Was dem gesamtdeutsch folgte, ist schlagender Beweis dafür, daß es zum unveräußerlichen Recht des Volkes gehört, alles beim alten zu lassen.

Die Verfassungsdiskussion im Gefolge des Jahres 1989 hat ein Problem: Sie mag diese mitunter triste Kehrseite der Souveränität nicht recht zur Kenntnis nehmen. Da gibt es zum Beispiel das Ausweichen in immer globalere Diskurse. Merkwürdig, daß ernstzunehmende Politikwissenschaftler wie Bernd Guggenberger sich darin bescheiden, in „Anmerkungen zum Verfassungsdenken vor der Jahrtausendwende“ die Notwendigkeit „welteinheitlicher Menschheitslösungen“ einzuklagen und ökologisch inspirierten „Nachweltschutz“ zu beschwören. „Globalität“ oder „Barbarei“ – diese Alternative ist wahrlich von „unüberbietbarer Grundsätzlichkeit“, bringt indes die Rhetorik der „planetarischen Weltverantwortung“ zuweilen hart an den Rand planetarischen Geschwafels (so im deplaziert wirkenden Beitrag zur Blauhelmdebatte des Jahres 1991).

Andererseits hat Guggenberger schnörkellose Einsichten wie diese formuliert: „Die Verfassung eignet sich nicht als Wunsch- und Hoffnungskatalog politisch chancenloser Minderheiten.“ Oder: „Daß die Parteien allzu konkurrenzlos die Demokratie dominieren, ist das Problem; und weil sie ohne Konkurrenz sind, läßt sich diesem Problem nicht wirklich beikommen.“ Eben deshalb gleicht die Verfassungsreform der „Quadratur des Zirkels“.

Symptomatisch für das Leiden am Schlaf des Souveräns ist die Geste des „Verrat-in-Bonn“. Aber hat nicht die gemeinsame Kommission von Bundestag und Bundesrat ihren Auftrag sabotiert, handfeste Vorschläge zur Verfassungsreform zu unterbreiten? Weit gefehlt! Wie Tilman Evers überzeugend zu analysieren weiß, stand am Anfang der unmißverständliche Auftrag der Regierungsmehrheit, das alte Grundgesetz zu zementieren. Parteienproporz und eine Geschäftsordnung, nach der selbst Änderungsvorschläge nur mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werden konnten, waren der beste Garant dafür.

So ist denn die Verfassungskommission, wie Evers pointiert, „erfolgreich gescheitert“. Ihr Abschlußbericht vom November 1993 beweist es: Ein bißchen Umweltschutz oder ein Gleichberechtigungspostulat für Frauen (das über den jetzigen Art. 3 Abs. 2 nicht hinausgeht) machen noch keine Verfassungsreform.

Es versteht sich, daß brisante Fragen ohne eine solche Kommission ausgehandelt werden, so zum Beispiel die Kappung des Asylrechts oder die Debatte um die künftigen Kriege der Bundeswehr. Auch hierzu gibt es Beiträge, die allerdings nicht auf die Verfassungsreform zugespitzt sind.

Brauchen wir überhaupt eine neue Verfassung? Ulrich K. Preuß bejaht diese Frage und führt drei gute Gründe an. Sie sind „meta- politisch“, weil sie von der Entwicklung jener reflexiven Potentiale handeln, die eine Gesellschaft befähigen, ihre wachsenden Konfliktstoffe kleinzuarbeiten. Preuß, verfassungstheoretischer Kopf der 68er-Generation, hat übrigens gerade die zweite Auflage seines luziden Essays „Revolution, Fortschritt und Verfassung?“ veröffentlicht – ein Stück hochkarätiger politischer Literatur.

Die bizarre Frage „Gehört Gott die Verfassung?“ ziert das dritte Kapitel des Sammelbandes. Nun war „im Anfang“ bekanntlich „das Wort“, doch keine konstitutionelle Offenbarung. Präambeln sind mehr oder weniger glücklich geratene Beteuerungsformeln, weiter nichts. Was der liebe Gott darin verloren hat, können wir also getrost der Grundgesetztheologie überlassen.

Andere Beiträge handeln von bekannten Fragen der direkten Demokratie, der Parteienfinanzierung, der sozialen Grundrechte oder des Umweltschutzes. So diskutiert Tine Stein, „Warum wir einen Ökologischen Rat brauchen“. Peter Häberle bricht eine Lanze für die Forderung, die künftigen Verfassungsrichter (und -richterinnen) öffentlich anzuhören. Wer die Frage der Plebiszite memorieren möchte, findet gute Argumente in den Beiträgen von Gerald Häffner und Norbert Kostede, ein paar schlechte Einwände dagegen bei Andreas Meier. Der Mitherausgeber tritt ohnehin durch eher konfuse Beiträge hervor, die sich leider so lesen, wie ihre verschraubten Titel („Brandenburgs Verfassungsadler mit voraufklärerischen Flügeln in ostdeutscher Landschaft“) befürchten lassen.

In dem sehr heterogenen Band werden Probleme angeschnitten, die man lange vertagen mag; viele bleiben indes Merkposten für ein Reformdefizit, das im Laufe der Zeit abgearbeitet werden muß. „Groß Neues ist nicht nachzutragen im Verfassungsrecht der neuen, größeren Bundesrepublik und auch nicht vorauszusehen“, konstatierte Bernhard Schlink schon 1991. Die in diesem Sommer versickernde Verfassungsdiskussion bewahrheitet die nüchterne Prognose des Staatsrechtslehrers drastischer, als ihm vielleicht lieb ist. Doch es gibt keinen Anlaß zu einer wehklagenden Verfallsgeschichte nach dem Muster „Es war einmal ein Runder Tisch ...“

Rätselhaft ist es freilich schon, daß sich am Ende der alten BRD viele so verbissen an deren Bonner Grundgesetz klammern. Es scheint, als gehöre diese Nostalgie zur Wehmut, die jeden Abschied umgibt. Das macht nichts, das geht vorüber. Bloß keine Bange vor der Berliner Republik!

Bernd Guggenberger/Andreas Meier (Hrsg.): „Der Souverän auf der Nebenbühne. Essays und Zwischenrufe zur deutschen Verfassungsdiskussion“. Westdeutscher Verlag, Opladen 1994, 315 Seiten, 39,80 DM

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