: Ein Spiegel unserer Zeit
■ Mit der Cholera-Epidemie, der Zehntausende zum Opfer fallen könnten, hat das Drama der ruandischen Flüchtlinge im zairischen Goma eine spektakuläre Wendung erlitten. Führen die Bilder des Schreckens zu mehr ...
Mit der Cholera-Epidemie, der Zehntausende zum Opfer fallen könnten, hat das Drama der ruandischen Flüchtlinge im zairischen Goma eine spektakuläre Wendung erlitten. Führen die Bilder des Schreckens zu mehr internationalem Engagement?
Ein Spiegel unserer Zeit
Sie sterben wie die Fliegen“, sagt ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation in Goma. Sind menschliche Vergleiche in einer unmenschlichen Situation nicht mehr möglich? Die mittlerweile eine Woche dauernde Anwesenheit einer Million ruandischer Flüchtlinge im extrem trinkwasserarmen vulkanischen Gebiet um die zairische Stadt hat jetzt die befürchtete Konsequenz: Eine Cholera-Epidemie gigantischen Ausmaßes. Mit 75.000 Fällen innerhalb der nächsten Woche rechnet die Hilfsorganisation Médecins sans frontières und kalkuliert, daß wohl die Hälfte der Erkrankten in dieser Zeit sterben werden.
Die Massengräber werden immer mehr und immer größer. Nicht der Rhythmus des Sterbens, sondern die Arbeitskapazität der französischen Bulldozer bestimmt das Wachstum der Grabstätten. In Berichten aus Goma ist vor allem Sprachlosigkeit zu spüren: Zu Tausenden liegen Menschen auf der Erde, manche einfach erschöpft, andere schon halb bewußtlos, viele an der Grenze zum Tod. Wer noch laufen kann und nicht mit Begräbnisarbeiten beschäftigt ist, sucht Wasser, meist vergeblich. Auf den Wegen zum Kivu-See haben sich kilometerlange Schlangen gebildet. Aber der See ist nicht sauber. Nicht zuletzt haben Leichen aus den Massakern der letzten Monate ihn verseucht.
Kann es Schlimmeres geben? Die Katastrophe von Goma ist ohne größere Vorwarnung auf die Weltöffentlichkeit hineingebrochen, und sie bringt zeitlose Ängste in die Medienwelt hinein: Pest und Cholera, drohende Lavaströme, strömende Flüchtlinge; Ausdrücke wie „biblische Ausmaße“ oder „Hölle auf Erden“ sind gefallen. Aber Goma ist kein Atavismus, sondern ein Spiegel unseres Zeitalters. Selten hat die Verbreitung von Schreckensbildern über die Bildschirme der Erde so rasch ein Gefühl der Dringlichkeit erzeugt. Nur das Zeitalter der weltweiten Medienvernetzung hat es möglich gemacht, daß gerade eine Woche nach dem Beginn des Massenexodus aus Ruanda schon an eine international koordinierte militärische Hilfsaktion gedacht wird.
In Bezug auf das Medienzeitalter ist diese Katastrophe nicht nur ihr Spiegel, sondern auch ihr Produkt. Noch nie zuvor ist ein humanitäres Drama in so kurzer Zeit entstanden. Ermöglicht wurde die wie von Geisterhand koordinierte Massenflucht durch das Radio, durch die Fluchtaufrufe im Sender „Radio Mille Collines“, kontrolliert von den extremistischsten Anhängern der einstigen ruandischen Regierung. Kaum ein Radiosender hat wohl jemals solchen geradezu kriegsverbrecherischen Einfluß ausgeübt: seit April die Aufrufe zur Ermordung der Tutsi-Minderheit und sonstiger Gegner der ruandischen regierungstreuen Milizen; in den letzten Wochen die Appelle an die Bewohner West-Ruandas, ihre Heimat zu fliehen, um den Siegern des Bürgerkrieges ein leeres Land zu hinterlassen. In all seinen Schrecken wäre Goma ohne diese technischen Hilfsmittel nicht möglich gewesen. Goma steht für ein Medienzeitalter, das seine eigenen Katastrophen produziert.
Gibt es auf diese Katastrophe eine Antwort? Wie kann man den Ruandern in Goma helfen? Die Mehrzahl der Flüchtlinge suchte nicht vor einer Elendssituation zu Hause Schutz und wurde auch nicht vertrieben. Sie hat sich selbst in eine Notlage begeben, aus guten und zugleich zwielichtigen Gründen. Unter den Flüchtlingen sind viele, die noch vor wenigen Wochen bei der Ermordung von bis zu 500.000 politisch oder ethnisch mißliebigen Ruandern dabei waren. Doch noch zahlreicher sind diejenigen, die einfach mitgingen, die aus den seit April um sie herum verübten Massakern den Schluß zogen, daß nach dem Sieg der Gegenseite nun auch ihnen ähnliches blühen könnte. Auch unbegründete Angst ist reale Angst.
Diese politische Situation, aus der heraus der Massenexodus entstanden ist, prägt auch die Hilfsbemühungen. Die neue ruandische Regierung und auch viele Hilfsorganisationen wünschen eine möglichst schnelle Rückkehr der Geflohenen nach Ruanda. Die Überlegung dahinter ist richtig: Die nötigen Versorgungsanstrengungen in Goma übersteigen die vorhandenen Möglichkeiten. Es darf sich auch nicht alle Aufmerksamkeit der Welt auf die Versorgung der Auslandsruander konzentrieren, während Ruandas kaputte Hauptstadt Kigali und die menschenleeren ruandischen Hügel sich selbst überlassen bleiben.
Doch daraus kann nicht folgen, daß die Rückführung der Flüchtlinge absolute Priorität verdient. Vielmehr ist erst einmal eine Stabilisierung vor Ort nötig. Aber der Flughafen von Goma, über den die Hilfe laufen soll, ist nach allgemeiner Einschätzung zur Zeit ein Nadelöhr. Auch Goma selber ist zu klein für eine Million Ruander. Sie haben sich über Dutzende von Kilometern verteilt, in ein Gebiet, in dem alles knapp ist — Lebensmittel, Trinkwasser, Brennstoffe, Medikamente — und zu dessen Versorgung nicht nur eine ununterbrochene Luftbrücke gebraucht wird, sondern noch viel anderes: Fahrzeugkolonnen, air drops, Aufbau einer Infrastruktur in einem politisch ohnehin unsicheren Gebiet.
Wenn das nicht in einem gigantischen Durcheinander enden soll, ist eine einigermaßen zentrale Steuerung mit militärischem Begleitschutz unausweichlich. Aber eine internationale militärische Präsenz vor Ort führt zu Problemen. Mischen sich ausländische Soldaten ein, wenn bewaffnete Elemente unter den Flüchtlingen einen neuen Guerillakrieg nach Ruanda hineintragen wollen? Wie verhält sich eine ausländische Militärpräsenz in Ost-Zaire zur Ambivalenz der Großmächte gegenüber dem nur noch halb als legitim anerkannten Regime des zairischen Präsidenten Mobutu? Müßte die im Aufbau befindliche erweiterte UNO-Mission in Ruanda nicht neu ansetzen? All dies ist mitzubedenken, wenn es darum geht, auf eine außergewöhnliche Katastrophe eine außergewöhnliche Reaktion zu finden, die nicht nur die um die Welt gehenden Bilder verändert, sondern auch tatsächlich zu einer Befriedung beiträgt. Dominic Johnson
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