: Ritt auf dem Phantom
Bemerkungen eines Besamungstechnikers ■ Von Gabriele Goettle
Über den kilometerlang sich dahinziehenden Feldern schwebten die Ausdünstungen längst versickerter Schweinegülle. In der Ferne war das Brummen eines Traktors zu hören. Man hätte glauben können, daß es unter der flirrenden Mittagshitze weit und breit nichts anderes mehr gab als diese hohen, dürren Maisstauden mit ihren unaufhörlich raschelnden Blättern. Unversehens aber verbreitete sich der Plattenweg zum Vorplatz eines flachen, weißgetünchten Gebäudes. „Tiervermehrungsfarm“, stand in hohen Lettern auf der Fassade. Drinnen herrschte kühles Halbdunkel. Hinter einem leeren Büro führte ein schmaler Gang entlang an den offenstehenden Türen von Aufenthalts-, Wasch- und Umkleideraum weiter ins Innere des Hauses. Kein Mensch war zu sehen. Es roch nach Desinfektionsmitteln und ein wenig nach Stall. Plötzlich waren vom Ende des Ganges her scheppernde Geräusche zu hören, auch klang es, als würde jemand heftig keuchen vor Anstrengung. Etwas unschlüssig ging ich weiter, rief dann aber diskreterweise sehr laut: „Hallo! Ist da jemand?“ Statt einer Antwort drang aus dem Raum vermehrtes Scheppern, das jedoch nach einem prustenden Ton sofort abbrach. Als ich nach kurzem Zögern zur offenen Tür trat, sah ich im weißgekachelten Raum einen kolossalen Eber sich lautlos über einem Phantom krümmen. Das leicht behaarte Tier stand auf zierlichen Hinterbeinen halb aufrecht und lastete mit seinem mächtigen Oberkörper auf dem mit grünem Kunstleder nachlässig bezogenen Gestell zur Samengewinnung. Während ich reglos stehenblieb und zusah, wie der weiße Schaum auf den Lefzen des Ebers weggerissen wurde vom scharfen Atem und in Flocken zu Boden fiel, überkam mich leise Furcht. Aber er kümmerte sich gar nicht um mich, sank nur ermattet in sich zusammen, blieb mit hängenden Ohren, halbgeschlossenen Augen und schläfrigem Gesichtsausdruck friedlich liegen.
Als plötzlich an der anderen Seite des Raumes polternd eine Tür aufflog, erschrak der Eber kaum weniger als ich, ließ aber sogleich ein vertrauliches Grunzen hören. Herein trat ein hagerer älterer Mann in Latzhose und Gummistiefeln. Er trug eine alte Autobatterie, setzte sie vorsichtig ab und stieß, noch in gebückter Haltung, mit dem Fuß die Tür hinter sich zu. Dann erst sah er mich und rief überrascht aus: „Was machen Sie denn hier, haben Sie das Schild nicht gelesen!“
„Entschuldigen Sie, wenn ich störe – vorne war niemand, da dachte ich, daß der Betrieb hier wahrscheinlich auch schon geschlossen ist – aber ich sehe, Sie arbeiten noch“, sagte ich in beschwichtigendem Tonfall.
Mit einer vagen Handbewegung zum ruhenden Eber hin erklärte er, bereits eine Spur freundlicher: „Ja, ja, wir produzieren noch, nicht mehr so wie früher, aber wir haben zu tun.“
„Sehn Sie“, erklärte ich, „ich kam hier ganz zufällig vorbei und sah die Aufschrift „Tiervermehrungsfarm“. Das klingt wie im Roman – ich bin nämlich Schriftstellerin. Also was hat man sich darunter vorzustellen? Sie vermehren Tiere?“
„Schweine, nur Schweine“, sagte er, nun ganz gutmütig. „Und Sie schreiben also Bücher? Da können Sie mal sehen, wie die Zeiten sich verändert haben. Früher wären Sie, auch als Schriftstellerin, hier nur mit einer Genehmigung von ganz oben reingekommen, das waren ja alles sensible Bereiche, unsere Betriebe. Heute haben wir nichts mehr zu verbergen, im Gegenteil, keiner weiß besser als der Westen, wie's innerbetrieblich bei uns aussieht. Finster! Wir schweben noch immer in der Luft, manchmal hoffe ich, daß man uns vergißt beim Bundesvermögensamt.“ Er seufzte, zog eine Schachtel Marlboro aus der Brusttasche und bot mir eine an. „Danke, ich habe aufgehört“, sagte ich.
„Auch darin seid ihr uns überlegen, ihr Westler, in der Selbstdisziplin!“ rief er aus und angelte mit spitzen Fingern in der Packung. „An sich ist das heute viel unhygienischer so, früher habe ich meine Karo einfach aus dem Päckchen geklopft und rein in den Mund. Ach früher! Früher hatten wir hier über dreihundert produktive Tiere – das heißt also Tiere, die ständig besamt und abgeferkelt haben. Damals hatte ich zwanzig Leute mehr. Heute sind wir nur noch zu viert. Entsprechend ist die Gesamtproduktivität zurückgegangen.“
Schweigend machte er einige tiefe Lungenzüge, räusperte sich und fuhr fort: „Wir waren eine richtige Zuchtmaschinerie, mit Ferkelproduktion wie am Fließband. Spermaproduktion – man kann sagen, hektoliterweise! Alles natürlich nur für den eigenen Gebrauch, denn wir waren ja kein Absambetrieb – Sie kennen den Unterschied wahrscheinlich nicht, es ist so: Nur reine Absamstationen beliefern andere Betriebe. Bevor ich Brigadier war, bin ich übrigens mal herumgereist mit einem „Rucksackbullen“ – so nannten wir die Tierärzte, die rundum besamt haben – aber das war nichts für mich, ich brauche meine überschaubare Arbeit. Ich bin ja Besamungstechniker, und da hätte ich hier alle Hände voll zu tun. Viele Zoo- und Agrartechniker haben sich bei uns damals zum Besamungstechniker qualifiziert, aber heute kann ich mir mit meinen Zeugnissen den Hintern wischen; wir können angeblich mit dem hochmodernen Niveau drüben nicht mithalten. Gut, sie sehens ja hier, bei uns ist vielleicht nicht alles so modern wie bei Ihnen, aber, und das können Sie mir glauben, wir sind gut ausgebildete Spezialisten; was die sogenannte Biotechnik angeht, da waren wir sogar ein ganzes Stückchen weiter als Sie drüben. Wir könnten hohe Leistungen erbringen, aber man hat uns die Hände gebunden. Hier jedenfalls, bei uns, glaubt keiner mehr an ein Morgen.“
Der Mann sank federnd ins Knie und goß aus einem Kanister destilliertes Wasser in seine Batterie, schaute prüfend in die Öffnungen und setzte die Verschlußkappen auf. „So“, sagte er zufrieden, die muß noch mal gehn für den alten Skoda. Den fährt jetzt mein Herr Sohn. Ich hab mir einen Opel Vectra geleistet, zweite Hand, für 20.000 Mark. Das Fahrzeug ist spitzenmäßig, alles bestens, aber ehrlich gesagt, jetzt, wo es jeden Moment mit uns hier aus sein kann, würde ichs nicht nochmal kaufen. Bedenken Sie mal, bei uns im Osten sind seit der Wende drei von vier landwirtschaftlichen Arbeitsplätzen abgebaut worden, und der Prozeß ist noch nicht zu Ende – was das bedeutet für unsere Menschen! Ich sehe sie ja täglich bei uns im Wohngebiet rumsitzen den ganzen Tag, nur noch Aldi und die Röhre, sonst nichts! Also ehrlich gesagt, da haben wir uns den freien Westen anders vorgestellt, damals. Und mir will das auch gar nicht in den Kopf, allein was uns hier betrifft: In Deutschland stammen 60 Prozent des konsumierten Fleisches vom Schwein, so 200.000 Schweine täglich, da muß doch auch für unseren Betrieb hier eine Zukunft drin sein, könnte man denken. Aber der Wahnsinn ist doch, ich kaufe bei uns hier im Supermarkt Fleisch aus anderen EG- Ländern billig ein. Billiger müßte doch sein, das Fleisch auch da zu produzieren, wo konsumiert wird, oder? Aber Vernunft und Rentabilität stehen manchmal auf dem Kopf, von uns aus gesehen, besonders wenn man auf die Ergebnisse schaut. Ein Beispiel: Es muß sich ja alles rechnen heute, selbst das kleinste Kartöffelchen im Schweinetrog. Den Schweinezüchtern, die wir beliefern, wurde immer wieder von Westvertretern gesagt: „Nehmt doch mal unser Mastfutter, das kommt euch wesentlich billiger!“ Und was passierte? Sie nahmen es und produzierten einen total weichen und schwammigen Speck – das kommt von den ungesättigten Fettsäuren. Während z.B. beim Kartoffeldämpfen zwar Energiekosten anfallen, dafür aber ein fester, kerniger Speck am Ende rauskommt. Da können Sie Schinken machen, Dauerwürste, alles! Genauso ist es im Grunde genommen mit den Ossis und mit den Wessis. Das fiel mir auf bei der Grünen Woche in Berlin, die Wessis erkenne ich regelhaft an der Beschaffenheit ihrer Fettschicht, ernsthaft, die ist weich und wabbelig, während sich unser Fett richtiggehend hart anfühlt – ich spreche natürlich nur von den Männern.“ Er lachte und schlug sich auf den flachen Bauch.
„Wußten Sie eigentlich“, fuhr er, nun wieder ernst, fort, „daß außer dem Affen kein anderes Tier dem Menschen so nah verwandt ist wie das Schwein? Da haben sie alle Tugenden und schlechten Eigenschaften vorliegen im Stall, alle! Und ich sehe das jetzt eigentlich erst, daß der Mensch irgendwie gebändigt werden muß in seinen schädlichen Verhaltensweisen, sei's nun durch ein sozialistisches Kollektiv oder sonstwas ähnliches. Wenn er sich einfach so dem blanken Überlebenskampf aller gegen alle überläßt, nur mit Gewalt und Tücke auf seinen Vorteil versessen ist, dann herrscht Krieg. Kinder gegen uns Eltern, Arbeitslose gegen Arbeitende, starke gegen schwache Autos, Arm gegen Reich, West gegen Ost. Wir sind zurückgefallen in tierische Verhaltensweisen, das alte Zusammengehörigkeitsgefühl ist weg, alle Solidarität und Freundschaft, jeder kämpft sich brutal vor zum vollen Futtertrog und trampelt die Schwächeren zu Boden. Dieser Freiheit fühle ich
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mich irgendwie nicht gewachsen, muß ich ehrlich sagen, der ganze Druck lastet Tag und Nacht auf uns, manchmal, wenn ich durch den Stall gehe, dann denke ich mir: So ein Leben in Sicherheit, Ruhe und Ordnung – so wie wir es auch mal hatten – haben heute eigentlich nur noch unsere Ferkel. Ich kann Ihnen das leider nicht zeigen, aus seuchenhygienischen Gründen, es darf kein Fremder in die Anlage.“
Als sei er nach kurzem Schlaf plötzlich wieder zu sich gekommen, runzelte der ehemalige Brigadier die Stirn, strich sich durchs Haar, trat dann zur Wand vor eine Tabelle hin und sagte einladend: „Kommen Sie, ich zeige Ihnen was, noch so einen Rückfall in graue Vorzeiten! Hier: unser Besamungskalender, sowas brauchen wir heute. Vor der Wende, müssen Sie wissen, wurden die Ovulationszeiten bei uns ja künstlich gesteuert, mit Hilfe von Medikamenten. Dadurch hatten wir für alle Sauen einen feststehenden Brunsttermin. Wir haben besamt, wir haben abgeferkelt; alles nach Plan. Heute können wir uns das aus finanziellen Gründen nicht mehr leisten, wir mußten auf duldungsorientierte Besamung zurückgreifen, das bedeutet, wir müssen unsere Sauen im Auge behalten und auf Brunstsymptome hin untersuchen. Da kam man sich anfangs ganz schön dumm vor beim Reittest. Auf dem Rücken der Sau zu sitzen, das hatten wir früher nicht nötig. Es ist an sich keine große Sache, entweder wird sie wütend, dann ist nichts, oder ist lammfromm, dann „steht die Sau“ – wie wir das nennen. Aber früher mußten wir eben auf Duldungsreflexe und all sowas nicht achten. Zum Besamungszeitpunkt haben wir losgelegt und dann noch einmal wiederholt, aber das machen wir heute auch noch so, weil einmalige Besamung erfahrungsgemäß viel kleinere Würfe bringt – beim Menschen allerdings gibt es da keinen Unterschied!“
Er lachte schallend. Der Eber, immer noch auf dem Phantom ruhend, blinzelte unsicher in unsere Richtung, machte Anstalten abzusteigen, schien es sich dann aber anders zu überlegen und verhoffte in einer halb abwartenden Haltung. „Nun kommt auch er allmählich in die Jahre“, sinnierte sein Herr, „übrigens, der kommt als erster von all unseren Ebern in die Wurst! Seit Anfang des Jahres ist, laut EG-Beschluß, die Verarbeitung von Eberfleisch nun erlaubt, obwohl dieses Fleisch ganz ekelerregend stinkt. Das ist die Marktwirtschaft, die läßt sich kein Geschäft entgehen.“
„Was ich noch fragen wollte“, wechselte ich das Thema, „wie funktioniert das eigentlich für den Eber, tragen Sie da irgendeinen Lockstoff auf, damit er den Betrug akzeptiert?“
Der Mann lächelte amüsiert und erklärte: „Da machen Sie sich aber ganz falsche Vorstellungen, mit Betrug hat das nichts zu tun. Die sind einfach nur von klein auf an das Phantom gewöhnt, kennen nichts anderes. Damit gibts überhaupt keine Probleme, für ihn hier ist das genausogut wie die wirkliche Sau, ja vielleicht sogar noch besser, denn es erspart ihm jede Menge Streß. Der würde bei einer wirklichen Kontaktaufnahme dann ja nicht jede nehmen, er gewöhnt sich an einige und will andere nicht, oder aber manche würden ihn nicht wollen, sowas kommt oft und oft vor, beim Natursprung. Ja, und dann die Plage alle Tage, das ersparen wir ihm alles.“
Der ehemalige Brigadier ging hinüber zum Eber, gab ihm schnell einen deftigen Klaps auf die Hüfte und fuhr fort: „Der freut sich doch richtiggehend, wenn ich ihn reinführe und er das hier sieht. Es ist genauso, als würden wir von kleinauf nur 'ne Sexpuppe von Beate Uhse kennen, dann würden wir uns jedesmal auch ganz wahnsinnig freuen, wenn wir sie sehen.“
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