: „Ich werde doch eh nur verarscht“
Im Schatten des Kölner Doms kampieren zeitweise bis zu 60 Kinder / Drogen und Alkohol bestimmen die Szene / Sozialarbeit ist nicht gefragt / Stadtverwaltung reagiert mit Vertreibungen ■ Von Hermann Theißen
Köln (taz) – Seit gut einem Monat hausen sie im Schatten des Kölner Doms, am Teufelsbrunnen. Zeitweise bis zu sechzig Kinder leben hier. Es riecht nach Urin und Alkohol, es wird gefixt und getrunken. Hier kann Großstadtelend pur besichtigt werden. Viele Touristen verbinden den Besuch im benachbarten Museumsareal mit einem Blick auf das an Gorki erinnernde „Nachtasyl“.
Anfang Juli stiegen Mitarbeiter der Kölner Stadtverwaltung zu dem Elendsquartier herab und verteilten Flugblätter an die Kinder. „Reden wir nicht lange herum“, heißt es da, „es geht euch nicht gut.“ Nicht lange reden, am besten überhaupt nicht reden, das scheint die Generallinie der Verwaltung in der Auseinandersetzung mit den Straßenkindern zu sein. Die städtischen Angestellten bemühten sich denn auch nicht einmal um ein Gespräch mit den orientierungslosen und zu einem großen Teil drogenabhängigen Kindern, sondern verwiesen auf ihr Flugblatt. In dem seien schließlich Telefonnummern angegeben, unter denen Hilfe abgefragt werden könne.
Konsequenterweise hatte man die für die Innenstadt zuständigen Streetworker, die noch am ehesten Zugang zu den verwahrlosten Kindern finden, von der Aktion erst gar nicht informiert. „Wir haben ein reguläres Hilfsprogramm“, behauptet Stadtdirektor Burkhard von der Mühlen. Wieso sollte man da die zuständigen Stellen einschalten? Doch mit den regulären Hilfsprogrammen haben viele Kinder vom Teufelsbrunnen ihre eigenen Erfahrungen gemacht. „Die vom Jugendamt wollen uns ja doch nur verarschen“, faßt die 14jährige Jana, die seit zwei Jahren auf der Straße lebt, ihre Alltagserfahrung zusammen.
So sieht es auch ihre Freundin Sonja. Im Spätsommer letzten Jahres hatte die 14jährige es bei ihren, wie sie sagt, „ständig besoffenen“ Eltern im Bergischen Land nicht mehr ausgehalten. Seitdem lebt sie auf der Straße. In der Kölner Domszene fand sie Freunde, gewöhnte sich an Haschisch, LSD, Heroin. Das zuständige Jugendamt in Siegburg beschloß für das Mädchen, das immer wieder mit Selbstmord drohte, eine „intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung“ und versprach, für sie eine kleine Wohnung zu suchen. Bis heute blieb die Suche erfolglos, Sonja vegetierte weiter auf den Matratzenlagern im Kölner Museumsareal.
Ihrer Freundin Jana ging es nicht anders. Über eine ehrenamtliche Helferin wurde sie zum Kölner Wohnungsamt bestellt: Es sei endlich eine Wohnung für die 14jährige gefunden worden, nur noch allerletzte Formalitäten seien zu erledigen. Jana war mit ihrer Betreuerin pünktlich zur Stelle, nur der Herr vom Wohnungsamt war nicht da. Der sei außerhalb, wußte ein Kollege, auf einer schon lange vorher anberaumten Sitzung. Nein, sonst sei niemand zuständig, man solle doch in den nächsten Tagen noch einmal vorbeischauen...
Anfang Juni begann die Kölner Verwaltung nach dem Motto „Unsere Stadt soll schöner werden“, die Szene rund um den Dom aufzulösen. Auch da redete man nicht „lange rum“, sondern verteilte Flugblätter an die Obdachlosen und Straßenkinder, in denen Hilfsangebote aufgelistet waren, die in der Praxis unwirksam blieben. Worum es wirklich ging, ist in einem verwaltungsinternen Protokoll festgehalten: „Da die Stadt Köln den am Dom lagernden Personen keinen anderen Platz zum Aufenthalt anbieten kann, war sie gezwungen, diesen Personenkreis nicht weiter in der Domumgebung zu dulden.“ Der Domplatz und das angrenzende Museumsareal wurden gesäubert. Wagte es ein Kind, seinen Schlafsack dort auszubreiten, wo tagsüber die Touristen flanieren, kamen die Herren von der Stadtreinigung mit ihren Schläuchen. Die Kinder zogen sich notgedrungen an den Teufelsbrunnen zurück. Die Vertreibung, die Alternativlosigkeit, der Zynismus der Stadtverwaltung mit ihren potemkinschen Hilfsangeboten und die verstärkte Präsenz der Polizei erhöhten die Orientierungslosigkeit und verschärften die Aggressivität in der Szene.
Unmittelbar nach dieser Vertreibung an den Teufelsbrunnen spritzte Sonja sich eine Überdosis Heroin. Am nächsten Morgen traf ihre Betreuerin am Teufelsbrunnen ein Mädchen, das sich nur mit größter Mühe auf den Beinen halten konnte. „Ich wollte mir gestern den Goldenen Schuß setzen“, stammelte Sonja, „aber die im Krankenhaus haben mich zurückgeholt.“ Wenig später flüchtete sie aus dem Krankenhaus, tauchte ab und landete wieder in der Szene im Schatten des Kölner Doms. Sie werde überall verarscht, von allen, sagt sie, „da bringt's doch eh nur der Goldene Schuß.“
Die Helferin nimmt Kontakt zu Sonjas Mutter auf, beide Frauen sehen eine akute Selbstmordgefahr, und zusammen mit dem Jugendamt betreiben sie eine Zwangseinweisung in das Bonner Landeskrankenhaus. In Polizeibegleitung wird die 14jährige in die Psychiatrie gebracht, ein Amtsarzt bestätigt die Notwendigkeit der Zwangseinweisung, doch die diensthabende Ärztin nimmt das Mädchen nicht auf. Wenig später kampiert Sonja wieder am Brunnen.
Sonja und Jana haben dort auch das neue Flugblatt der Stadtverwaltung erhalten. Daß man ihnen helfen will, daran glauben beide Mädchen nicht mehr. Was werden soll, wissen sie nicht. Verstanden haben sie allerdings längst, warum die Verwaltung „nicht lange rumreden will“ und was Stadtdirektor Burkhard von der Mühlen meint, wenn er sagt: „Das Ordnungsrecht wird zur Anwendung kommen.“
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