: Ganz heiße Reifen
Weissenhof-Turnier: Berasategui – Gaudenzi 7:5, 6:3, 7:6 (7:5) / Was einen Tennisprofi von einem Bauarbeiter unterscheidet ■ Aus Stuttgart Cornelia Heim
Auf dem Centre Court zermatschte die Sonne jegliche Lust auf Bewegung — 51 Grad Celsius sprach das Thermometer, und der Lautsprecher warnte die Zuschauer: „Setzen Sie sich nicht ohne Kopfbedeckung auf Ihre Plätze!“ Die beiden Finalisten des Stuttgarter Tennisturniers, deretwegen die 5.600 Sonnenbrand- und Ozongefahr kaltblütig in Kauf nahmen, warnte keiner vor übermäßiger Betätigung ihrer Muskelgruppen. Warum auch? „Einen Bauarbeiter fragt auch keiner, ob er es in der Sonne aushält“, meinte ein Arzt ebenso lakonisch wie unlängst Bundestrainer Vogts, der den weltmeisterlichen Laufwind gepriesen hatte, welcher sich in sengender Hitze bei körperlicher Ertüchtigung von alleine kühlend einzustellen beliebe.
Andrea Gaudenzi (20), nach eigener Aussage einer der wenigen Italiener, die für den calcio nicht sonderlich viel übrig haben, verließ sich statt auf Bertis fachmännischen Tip lieber auf ein Ballmädchen, das ihm in jeder Sitzpause Trockeneis ins Genick preßte. Sein gleichaltriger Gegenspieler bevorzugte Eis würfelweise und bröselte selbiges solange in die Trinkflasche, bis die „time“ out war und er gar nicht mehr in den Genuß seiner wertvollen Flüssigspeise gelangte. Dennoch: Das Rezept von Alberto Berasategui war im „Glutsommer in Stuttgart“ (Bild) das erfolgversprechendere. „Menschen leiden, lechzen“ (dito), „50 kippten um, eine Frau starb nach einem Hitzekollaps“, und des Spaniers „Vorhand prügelte Gaudenzi aus dem Mercedes“ (Bild), in dem er sich bereits nach dem Halbfinalsieg über den Russen Tschesnokow gewähnt hatte.
Widmete die Stuttgarter Zeitung gar den Temperaturen ihren Leitartikel und kam darin zu dem aufschlußreichen Schluß „das Wetter bestimmt unser Fühlen“, so scheint es bei Profi-Tennisspielern übergeordnete Faktoren zu geben, die dann, wenn im Körper eines jeden Normalsterblichen das „Blut dick wird“ und sich „in den Beinen ansammelt“ (Bild), jene Wetterfühligkeit außer Kraft setzen: „Die Spieler beflügelt das Preisgeld“, meinte ein Mannschaftsarzt. Und weil „Deutschland von Hochs regelrecht umzingelt ist“ (Bild), mußte der Titelsponsor beim 100. Geburtstag der Weissenhof-Anlage den Flügeln zusätzliche Schlagkraft verleihen – mit einer Luxuskarosse aus seinem Hause als außeretatmäßigem Schweißband zu den 150.000 Dollar Preisgeld für den Gewinner.
Angeblich hat das Gefährt (ein Unikat) bereits im Winter als Lockvogel herhalten müssen. Ronnie Mjörnell, stellvertretender Turnierdirektor und für die Besetzung zuständig, erzählt, wie deshalb beinahe sogar Andre Agassi ins Schwabenländle geeilt wäre („Eigentlich sollte ich wiederkommen“). Aber offenbar hat Schillerlocke Agassi bereits mehr Pferdestärken in der Garage stehen als Alberto Berasategui und Andrea Gaudenzi zusammen, wobei der Unterlegene am Ende doch schmerzlichst bedauerte, daß er nun mit dem Zug die Heimreise antreten müsse.
Der Italiener – nach seinem Halbfinalsieg über den Russen Tschesnokow hat er Turnierdirektor Bernd Nusch zugeraunt, er würde noch lieber als die Limousine ein Cabriolet sein eigen nennen – hat wohl zu intensiv von diversen heißen Reifen geträumt. Alberto Berasategui indes hat nach eigenem Bekunden erst nach dem Finale ausgeträumt. Sein letzter Wunsch sei der Einzug in die Top ten gewesen, was dem Mann aus Bilbão, der als einziger im Profi-Tennis, dank einer außergewöhnlichen Schlägerhaltung und unorthodoxer Ausholbewegung, Vorhand wie Rückhand auf ein und derselben Seite des Schlägers spielt, mit dem Dreisatz-Sieg über den derzeit besten Italiener trefflich gelungen ist. Gaudenzi wird im übrigen von Ronnie Leitgeb gecoacht, dem Trainer des bisherigen Weltranglisten-Zehnten, Thomas Muster.
Leitgeb, der Kraftpaket Gaudenzi unbestätigten Angaben zufolge nicht mit Spielzeugautos bei Trainingslaune halten muß, schreibt den Aufwärtstrend neben einem eisernen Vier-Jahres-Trainingsplan der Tatsache zu, daß er den 20jährigen von dolce vita und bella italia fernhalte. Der Mann aus Faenza, bester Juniorenspieler, hat seine Zelte trotz Heimweh artig in Wien und Monte Carlo aufgeschlagen und darf sich jetzt immerhin darüber freuen, daß seine Landsleute, für die ein anständiger Ball immer mit dem Fuß und nicht mit dem Schläger befördert wird, von seiner ersten Finalteilnahme in Kenntnis gesetzt wurden: Das Sportblatt schlechthin, Gazzetta dello sport, hat den verlorenen Sohn Andrea Gaudenzi via Telefon zum Interview gebeten. Auch davon kann ein Bauarbeiter nur träumen.
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