piwik no script img

Adressenschweine legen „Information Superhighway“ lahm Von Andrea Böhm

Ich habe meinen amerikanischen Wortschatz um einen interessanten Begriff erweitert: „Address hygiene“ – zu deutsch: Adressenhygiene. Dieser Begriff entstammt weder dem Fachjargon der Washingtoner Müllabfuhr noch dem des Gesundheitsamtes. „Adressenhygiene“ – oder das Fehlen derselben – ist ein Problem, das die Angestellten der städtischen Post ihren Kunden unterstellen. Also mir und meinen 650.000 MitbewohnerInnen. Und all jenen, die sonst noch Briefe in die Hauptstadt schicken. Mangelnde Adressenhygiene demonstriert, wer seine Adresse unleserlich oder unvollständig auf den Briefumschlag schreibt – und damit erst den Computer und dann die Sortierer auf den Postämtern zur Verzweiflung bringt.

Wer zum Beispiel dem Staats- und Regierungsoberhaupt sein Herz ausschüttet und das Geschriebene dann an „President Bill, White House“ schickt, ist ein „Adressenschwein“. Es kann sich zwar jedes Kind denken, daß dieser Brief bei einem gewissen Herrn Clinton, 1600 Pennsylvania Avenue, abgeliefert werden soll, aber der Computer im Washingtoner Hauptpostamt kann auf dem Umschlag keine Postleitzahl finden und gerät darüber ebenso in Verwirrung wie der Postbote, der einen Geschäftsbrief an die „Firma XY, Ecke 16. und K-Straße“ austragen soll. Straßenkreuzungen haben nämlich die Eigenart, in der Regel aus zwei Straßen und vier Ecken zu bestehen. Der Absender ist eine „Adressenschlammsau“, weil er nicht nur das Sortieren erschwert, sondern auch den Postboten um die Ecken schickt.

Nun hat das Postler-Geschrei möglicherweise damit zu tun, daß der Berufsstand selbst in Verruf geraten ist. Vor allem in der Hauptstadt. Zum einen wurde in einer landesweiten Studie unlängst festgestellt, daß Washington den schlechtesten Postservice im ganzen Land hat und nur knapp 60 Prozent aller Briefe pünktlich ausgeliefert werden; zum anderen war letzte Woche publik geworden, daß Inspektoren bei einem Überraschungsbesuch in den Postämtern im Mai zu ihrer eigenen Überraschung rund drei Millionen unsortierte Poststücke vorfanden, die seit Wochen in den Lagerhallen vor sich hingammelten.

Zum überwiegenden Teil handelte es sich um Werbebroschüren und -briefe, die mittlerweile ihr Verfallsdatum überschritten haben dürften. Doch im Hauptpostamt lagerten auch kistenweise Briefe an Kongreßmitglieder und Regierungsbehörden, die mit einem Absendedatum aus dem Monat Februar versehen waren. Es sei an dieser Stelle angemerkt, daß die Anschriften in bezug auf „Adressenhygiene“ keinerlei Grund zur Beanstandung gaben.

In der Öffentlichkeit geht der Streit nun darum, ob die Washingtoner Post mehr Personal braucht – oder ob das bereits vorhandene schlicht zu faul ist. Aus Arbeitnehmersolidarität und Gründen der politischen Korrektheit würde ich sofort ersteres annehmen. Jedesmal, wenn ich im Postamt in der Schlange stehe und besagte Arbeitnehmer mit beneidenswerter Lässigkeit das Prinzip der Langsamkeit demonstrieren, neige ich eher der zweiten These zu. Am Ende kommt's noch so weit, daß der einzig verbliebenen Supermacht die Briefmarken ausgehen. Und das im Zeitalter des „Information Superhighway“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen