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Gehende Unterkörper im Profil

■ Wer die von Werner Kohn fotografierten Verkehrszeichen sieht, kann unmöglich glauben, am rechten Ort zu sein

Was sind Verkehrszeichen? Richtig, die Illustrationen zur Straßenverkehrsordnung im Taschenkalender, die in Ruhe betrachtet werden wollen. Ein Pfeil ist niemals einfach nur ein Pfeil, denn er zeigt dort, wo man die Orientierung verliert, immer nach unten. Nur wer sich – auch bei Höchstgeschwindigkeit – Zeit für die Blechschilder nimmt, wird ihren tieferen Sinn erfassen.

Über 15.000 Verkehrszeichen aus 43 Ländern hat der Bamberger Fotograf Werner Kohn in zwanzig Jahren fotografiert. Er steht deswegen im Guinnessbuch der Rekorde. Eine Auswahl von 70 Fotografien sowie einige Originalschilder, die von der Decke baumeln oder wie kleine Indianerzelte auf dem Boden stehen, kann man zur Zeit in einem Raum des Werkbundarchivs besichtigen.

Die deutschen Schulkinder – das sind Mädchen in Röcken, mit Schleifchen im Zopf, die von Knaben mit kurzen Haaren in kurzen Hosen, mit großer Tasche unterm Arm, an der Hand geführt werden. Der Arbeiter beim Straßenbau trägt stets Schiebermütze, hat eine athletische Statur und schaufelt unermüdlich, leicht in den Knien federnd, einen kleinen dreieckigen Erdhaufen beiseite.

Fahrtrichtungszeichen aus Israel und Griechenland illustrieren die ganze Absurdität des Irgendwohinwollens: Eine gebogene Linie mit Pfeilen an den Enden wird von einem roten Balken überdeckt. Niemand, der dieses Zeichen gesehen hat, kann weiterhin glauben, am richtigen Ort zu sein, geschweige denn an einem solchen anzukommen. Dann die sogenannten Fußgänger: Gehende Unterkörper im Profil warnen Sri Lankas Autofahrer vor ihnen. Hierzulande liebt man's realistisch – die auf den Asphalt gepinselte gelbe Menschenfigur ähnelt dem markierten Fundort einer Leiche.

Die Fotografien von Werner Kohn zeigen Meisterwerke unbekannter Schildermaler, Unikate am Straßenrand. „Schweiz 1978“ – auf einem Foto mit dieser Bezeichnung sieht man ein Paar auf dem Foto inmitten eines matten gelben Kreises, der von einem roten, vom Rost zerfressenen Rand umrahmt wird. Ein Mann mit Schirmmütze steigt kraftvoll in die Pedale, während sie auf dem Gepäckträger sitzt und ihn mit beiden Armen umklammert. Ihr langes Haar weht im Fahrtwind. Einzig mögliche Deutung dieses Signals: Die Schweiz warnt vor verliebten Zweiradfahrern.

In Portugal hingegen fallen die sakralen Busse auf. Mit ihren Rundbogenfenstern ähneln sie fahrbaren Kirchenschiffen, die durch den blauen Himmel schweben. Ein Schild aus Italien warnt vor einem Sturzbach. Es stammt aus der Hand des „Meisters der Schaumkrone“, der anscheinend die Werke Hokusais genau studiert hat. Kühe haben meistens mächtige Euter, und die deutsche Kröte ist – einem Schild von 1991 nach zu urteilen – bereits serienmäßig mit einem Fahrbahnstreifen auf dem Rücken ausgestattet. Autohupen in Indien richten sich wie Schlangen auf. Nur Fußgänger (auf Schildern äußerst selten: -innen) sind anscheinend überall auf der Welt die gleichen: als Gejagte im Laufschritt – mit einer Tasche in der Hand – immer auf der Flucht, die flehenden Hände erhoben. Auch Fahrräder sind immer gleich – Herrenfahrräder ohne Licht und ohne Bremse. Am nützlichsten sind die Verkehrszeichen am Ufer. Sie geben zuverlässig Rat für den Autokauf, denn Vorsicht!: Kleine runde Autos stürzen gern ins Meer.

Endlich gewinnen wir dank dieser Ausstellung den Blick für die Schönheiten unserer beschilderten Umgebung! Den kühnen Entwurf der Ampelanlagen bewunderten wir schon immer, doch erst jetzt erkennen wir die liebevollen Details am Brandenburger Tor: „Vorgeschriebene Fahrtrichtungen“ (roter Pfeil, weißer Pfeil), Vorfahrtsschilder und die runde 10. Die passende Ergänzung dieser stilvollen Installation wäre ein Hinweisschild, wie er sich in der Nähe der „Sumpfpumpe“ am Savigny-Platz auf dem Trottoir findet: „Wasser laufen lassen“. Stephan Schurr

„Über die Unbeständigkeit von Gesetz und Ordnung. Verwitterte und ergänzte Verkehrszeichen fotografiert von Werner Kohn“, bis 10.9., Di.–So., 10–16 Uhr, Werkbund-Archiv, Martin-Gropius- Bau, Stresemannstraße 110, Kreuzberg. Katalog 49,80 DM.

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