■ Die UNO ist wieder einmal in einer schweren Krise: Ärger wegen Ghalis Brief
Pure Heuchelei sind die „überraschten“ und „verärgerten“ Reaktionen aus Washington, London, Moskau und Bonn auf den Brief des UNO-Generalsekretärs an den Sicherheitsrat. Die ausführliche Lageanalyse, mit der Butros Ghali seine Empfehlung des Rückzugs aller Unprofor-Soldaten aus Rest-Jugoslawien begründet, trifft völlig zu. Alle finanziellen, personellen und politischen Probleme, die der UNO-Generalsekretär in seinem Schreiben noch einmal – in für die breite Öffentlichkeit dankenswerter Klarheit – auflistet, sind seit langem bestens bekannt. Gerade auch bei den Ländern, die für diese Probleme wesentlich verantwortlich sind: zum Beispiel weil sie, trotz drohender Pleite der UNO, Pflichtbeiträge in Milliardenhöhe schuldig blieben; oder durch die Ablehnung der vom Generalsekretär in seiner „Agenda für den Frieden“ vorgeschlagenen ständigen UNO-Truppe und die Weigerung, Soldaten ihres Landes einem UNO-Oberkommando zu unterstellen.
Bleiben die bosnischen Serben bis zur morgigen Außenministersitzung der Kontaktgruppe bei ihrem „Nein“ zum jüngsten Teilungsplan, dürfte Butros Ghali wieder einmal den Vorwurf zu hören bekommen, er habe mit der Veröffentlichung seines Briefes zum jetzigen Zeitpunkt den Serben signalisiert, daß sie nicht mit ernsthaften Konsequenzen zu rechnen haben. Einer solchen Geste aus New York bedurfte es allerdings gar nicht mehr. Seit Vorlage des Teilungsplans vor drei Wochen haben die Serben genügend derartige Signale von den Kontaktgruppen-Staaten selbst erhalten.
Gewichtiger und von grundsätzlicher Bedeutung ist die Kritik, die die Botschafter einiger nichtständiger Mitgliedsstaaten im Sicherheitsrat aus dem Süden wie aus dem Norden – bislang noch hinter verschlossenen Türen – formuliert haben. Mit seinem Vorschlag zur Übernahme der gesamten Bosnien-Operation durch die Kontaktgruppe verstärke der UNO- Generalsekretär einen bedenklichen Trend, der spätestens seit dem Golfkrieg zu beobachten sei: weg von einer globalen, politisch einklagbaren Zuständigkeit der UNO hin zum Handeln von Staatengruppen oder regionalen Organisationen, die sich lediglich eine „Autorisierung“ durch den Sicherheitsrat besorgen. Ob derartige Ad-hoc-Koalitionen in konkreten Krisensituationen zustande kommen oder auch nicht (siehe Ruanda) und mit welchen Zielen und Mitteln sie handeln, sei stärker noch als im Falle des Sicherheitsrates abhängig von den Interessen und Möglichkeiten der jeweiligen Länder.
Parallel zu dieser Entwicklung komme es den Kritikern zufolge im Sicherheitsrat gerade in jüngster Zeit immer häufiger zu informellen give and take-Absprachen: Frankreich erhält freie Hand in Ruanda, die USA dafür Unterstützung für ihren Resolutionsentwurf zur Invasion in Haiti. Die peace-keeping-Rolle russischer Soldaten in Georgien und anderen Regionen des „nahen Auslands“ wird stillschweigend geduldet, und Chinas schwere Menschenrechtsverletzungen sind kein Thema in dem UNO-Gremium.
Es ist zu hoffen, daß der Ghali-Brief eine öffentliche Debatte über diese Entwicklung auslöst, die schon bald zu einem Ende der UNO führen könnte. Andreas Zumach, Genf
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