: Kindheit mit Freiräumen
■ Betr.: „DDR-Kindheit zum Anfas sen“, taz vom 19.7.94
Was Bascha Mika da zusammengetragen hat, mag ja Herzenswunsch der DDR-Führung gewesen sein und sich so auch in den diversen Richtlinien zur Kindererziehung wiederfinden – nur die Realität einer Kindheit in der DDR ist, indem man das Zeug für bare Münze nimmt, eben nicht erfaßt. Die Erzieherinnen in den Kinderkrippen, -gärten und -horten hatten bei der Betreuung von Kindern in ihrer Mehrheit nicht die Erziehung „sozialistischer Persönlichkeiten“ im Kopf, außer wenn ihnen von offizieller Seite eine entsprechende Stellungnahme abverlangt wurde. Auch in der Schule wurden die „sozialistischen Normen“ im Alltag immer wieder ignoriert, und zwar sowohl von Schüler/innen als auch Lehrer/innen. Von den Familien ganz zu schweigen. Das waren in der Regel ganz stinknormale patriarchale Lebenszusammenhänge, und wenn in ihnen Disziplin von den Kindern verlangt wurde, dann lag das nicht so sehr am „Sozialismus“, sondern wohl eher daran, daß eben auch die DDR eine deutsche Gesellschaft war.
Diese Nichtbeachtung der Regeln, verbunden mit Lippenbekenntnissen zu ihnen, wenn es notwendig schien, erzeugten übrigens eine ganz eigenartige subversive Ironie im öffentlichen Bewußtsein, die von Wessis – wie ich inzwischen mehrfach festgestellt habe – oft nicht verstanden wird. Die andere Seite davon war natürlich eine Doppelmoral, besonders bei den Erwachsenen, die viele von ihnen, insbesondere nach der Wende, in den Augen ihrer Kinder unglaubwürdig machte. Und natürlich gab es in einer DDR-Kindheit auch Freiräume für Spiele und Abenteuer oder auch um einfach nur „rumzuhängen“ und zu träumen. Ob sie wesentlich kleiner waren als für BRD-Kids, kann ich nicht einschätzen. Wolfgang Rose, Potsdam
Der Text von Bascha Mika produziert die Vorstellung: Ordnung, Pflichterfüllung und Gehorsam, Autorität = Einordnungsdrill, und der überall, von der „vollgekackten Windel zum ersten Knutschen“. Schade, die wenigsten werden das als ihre Kindheit wiedererkennen können.
Wann wird endlich verstanden, daß institutionalisierte und ideologisch konzipierte Erziehung, die unzweifelhaft vorhanden war, nicht alles über ihre Realisierung aussagt, daß auch in der DDR ein Unterschied bestand: zwischen dem, was an institutionellen Strukturen, Programmen, theoretischen Orientierungen vorhanden war, und dem, wie es subjektiv erlebt wurde. Diese Distanz muß endlich in der Erinnerung und gedanklich durchdrungen werden. Solange dieser Abstand nicht als wirklich gewesen angenommen wird, werden Abwehr und Unverständnis dominieren.
Das für mich Erschreckende war und ist, daß es diese hierarchischen, weisungsorientierten und durchideologisierten Strukturen gab, die in Konflikt- und Konfrontationssituationen funktionieren konnten. Aber sie mußten nicht funktionieren. Sie kamen kaum noch im Alltag zur Anwendung, ausgedünnt bildeten sie lediglich formale Hüllen eines ansonsten relativ freien und offenen, von der jeweiligen Person mitbestimmten Verhaltens und Erziehens. Ein Erziehen und Verhalten, das immer wieder in die vorgegebenen Strukturen einrasten konnte, aber – noch ein Aber – auch ihre umgekehrte Ausgestaltung erfuhr: die Räume, die den Kindern und Jugendlichen geboten wurden, als freie und selbstbestimmte zu nutzen – trotz oder gegen ihre letztlich ideologische Einbindung. Diese Möglichkeiten gab es auch, und wenn sie bemüht wurden (auch das passierte), dann konnte es zu Konflikten mit den Institutionen kommen, die jedoch dann immer noch nicht monolithisch oder nach einem einheitlichen Plan in der Realität agierten, weder in der Staatsverwaltung noch in der Erziehung. Den selbstbestimmten Versuch gab es ebenso wie Repression. Letztere herrschte als permanente Drohung und Möglichkeit der Konfliktlösung. Die Normalität war der Abstand zwischen beiden, den staatlichen Insitutionen und dem individuellen Verhalten, so normal, daß die eine Seite, die der staatlichen Institutionen, an die schließlich ihre maßgeblichen Betreiber selbst nicht mehr glaubten, wie ein Kartenhaus zusammenbrach.
Und dann etwas Tragisches. Nach einem kurzen Versuch, sich seiner Möglichkeiten als gestaltende und selbstbewußte Individuen auch bis in den Bereich der Institutionen, der Politik und der eigenen Erziehung hinein umfassend bewußt zu werden, besetzten – gewollt und nicht gewollt – diese Stellen schon etablierte und funktionierende Institutionen und Strukturen samt ihrem Personal. Aktuell sehe ich darin die persönlichkeitsgefährdenden Momente, in diesem Ohnmachtsempfinden, aus dem außer kurzen Aufbrüchen kein Ausbruch gelingt – groß ist der Anpassungsdruck, weil er mehr sozial, individuell und existentiell ist, aber... Mirko Pöhler, Berlin
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