Der arme Poet und seine Opfer

Gesichter der Großstadt: Daniel Spiel will den Menschen mit seinen Gedichten auf die Sprünge helfen, aber manchmal ist es umgekehrt  ■ Von Barbara Bollwahn

Mit einer blauen Zugmaschine und einem Zirkuswagen rückte Daniel Spiel vor einem Jahr den Berlinern auf die Pelle. Seitdem lebt er nach einem festen Rhythmus. Zumindest donnerstags bis sonntags. Dann geht er auf Tournee, angetan mit grünem Samthut, ockerfarbener Jacke, einer Kette aus Papierröllchen um den Hals und einem prosagefüllten Zylinder. Seine Opfer: ganz normale Gäste in Kneipen in Mitte, Prenzlauer Berg und Kreuzberg, denen er mit langem Atem Gedichte aus eigener und fremder Feder zu verkaufen sucht. Kein leichtes Unterfangen. Weder für ihn noch für die Opfer.

Doch Daniel Spiel ist unerbittlich. Mit dem Vortäuschen von Analphabetentum jedenfalls läßt er sich nicht abspeisen. Statt dessen versucht der 33jährige, mit missionarischem Eifer und dem „Geplapper einer Lebensmühle“, seine Mitmenschen davon zu überzeugen, daß er weder mit Losen, noch Tampons oder Horoskopen handelt, sondern mit Zeilen von Morgenstern für fünfzig Pfennig oder eigenen Ergüssen für das Doppelte. „Ruhm kostet extra.“

Der gelernte Tischler, der seinen wahren Familiennamen gegen Spiel eingetauscht hat („Das ganze Leben ist ein Spiel“), ist beseelt von dem Gedanken, Gedichte alltäglicher zu machen. Am liebsten würde er sie, Riesen gleich, von Hauswänden herunter sprechen lassen. Vor zehn Jahren entschied sich der arme Poet jedoch für die Zwergenversion. Seitdem verarbeitet er kleine Gedichtzettel mit verschiedenfarbenen Bändchen zu Röllchen. „Ich las damals Gedichte wie andere die Zeitung am Frühstückstisch.“ Erich Mühsam, Pablo Neruda, der „göttliche“ Friedrich von Hagedorn, Boris Vian. Manchmal faszinieren ihn auch nur einzelne Zeilen: „Wurst und Butter hüpften frech aufs Brot“ (Ringelnatz). Zeilen, „die das Leben kommentieren“, trägt er mit sich herum oder fischt sie bei Bedarf aus einem der vielen Behältnisse mit Zetteln verschiedener Couleur, die in Reih und Glied in seinem Wohnwagen stehen.

Daß sich der Herr über Tausende Papierchen eines Tages verzetteln könnte, fürchtet er nicht. Im Gegenteil. Sie beruhigen ihn. Gezielt greift er ein Kärtchen, auf dem der 7. Mai 1994 steht — der Besuch in der „Kapelle“, einer Kneipe in Prenzlauer Berg. Bei der Erinnerung an diesen ersten Gedichtgang kommt Glanz in seine Augen: „Als ich in meinem Kostüm auf die Kneipe losging, hatte ich unerwartet das Gefühl, du tust eigentlich nur das, was dir in der Vorstellung schon lange lebendig war.“

Auch in seinem Wagen, der auf der Wiese eines Bauern in Schönfließ am Rande von Ostberlin steht, pflegt Spiel an seinen tourneefreien Tagen einen festen Rhythmus. Jeden Morgen nimmt er seinen „Wochenplan“, ein Holzbrett mit sieben Wäscheklammern, die statt nasser Wäsche trockene Notizen wie „Guinness für Freund X nicht vergessen“ festhalten. Dann bindet er Dutzende von Kopien aus seiner Feder mit violetten, gelben, roten, blauen und grünen Bändchen zusammen. Eine, wie er meint, klassische Form von Arbeitsbeschaffung. Weniger klassisch ist freilich seine Arbeit. Wie etwa sein „Problemkind“-Gedicht. Die mit violetten Fäden zusammengehaltenen Wörter des Gedichtes „Zimmersuche“ seien der absolute Schocker, warnt er an den Kneipentischen. Umtausch ausgeschlossen: „In der ersten Etage nahmen sie keine Schwarzen, Weiße mußten es sein. In der zweiten Etage nahmen sie keine Ausländer, Deutsche mußten es sein. ... Aber natürlich waren sie gegen den Rassismus und Nationalismus in den unteren Etagen.“ Geschockt?

Spiel findet das Gedicht gut geschrieben, stilistisch gäbe es nichts zu meckern. Daß die Käufer es schlichtweg schlecht finden könnten, glaubt er nicht. Den Lesern der rotbebänderten Röllchen mit dem Gedicht „Liebesmüde“ rät er gleich, einen Schnaps zu bestellen. Bei den grün umwickelten Papierchen nimmt er sich das Universum der Metropole in den endlosen U- Bahn-Zügen vor, die Suche nach einem Menschen, der sich in sein Herz eingenistet hat und er, der Dummkopf, einfältige Tor, macht sich schwerste Vorwürfe, nicht „an uns geglaubt“ zu haben.

„Gefälligkeitsdichtung“ kommt für ihn nicht in Frage. Viel lieber redet er so lange auf die Leute ein, bis sie ein Gedicht kaufen oder er die Kritik an den nächsten Tisch mitschleppt. „Ich gehe nur noch in Cafés mit Notausgang.“ („Eh, das ist ein Scherz“, freut er sich.) An den ersten negativen Reaktionen auf seine Werke hat er lange geknabbert. Mittlerweile baut Spiel die Zurückweisungen in seine Rolle ein. „Andere hätten den Löffel schon längst geworfen“, freut er sich über sich. Gedichte zu verkaufen sei nun einmal nicht so einfach wie Frühlingsrollen. Die Menschen sollen seine Gedichte lesen, um „das Wesentliche unseres Menschenseins zu entdecken“. Was das sein soll, weiß er aber auch nicht. Auf jeden Fall etwas Selbstverständliches, Innewohnendes, was er nicht erklären kann. Manchmal redet er so viel und so lange, daß ihm die Luft zum sauberen Sprechen ausgeht. Dann ist es Zeit für ihn, nach Hause zu fahren.