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Die Entdeckung des Fadenlaufs

■ Keine Knöpfe, keine Säume, kaum Nähte, dafür viel Stoff: Ein prachtvoller Bildband über die Modeschöpferin Madeleine Vionnet wird derzeit verramscht

Als Madeleine Vionnet 1975 im Alter von 99 Jahren starb, hatte sie sich eine 86jährige praktische Erfahrung in der Kunst der Modeschöpfung und den Titel „Architektin der Mode“ erworben. Worauf sich dieser Ruf gründete, kann man Jaqueline Demornex' ebenso prachtvollem wie informativem Bildband entnehmen, der zur Zeit im Sonderangebot verschleudert wird.

Als Madeleine Vionnet 1907 ihre erste eigene Kollektion im Salon von Jaques Doucet präsentierte, waren die Einkäufer entsetzt: Die Models gingen barfuß und sahen aus, als hätten sie ihre Morgentoilette noch nicht ganz beendet. Weiche, fließende Stoffe, unter denen sich die Konturen des Körpers deutlich abzeichneten und das nackte Fleisch erahnen ließen. Vionnet war die erste, die das Korsett dorthin verbannte, wo es hingehörte: in die Behandlungszimmer der Orthopäden.

Vionnet nahm für ihre Ideen alle Freiheiten eines Künstlers in Anspruch, ihre Schnitte entwickelte sie jedoch mit der Intelligenz eines Mathematikers. Demornex hat dankenswerterweise einige Schnittproben von Vionnet in ihrem Buch veröffentlicht. Schnitte, die so einfach sind, daß man weinen möchte – bis man versucht, sie zu kopieren. Hinter diesen kleinen Dreiecken und Quadraten, die da so sorglos aneinandergeheftet erscheinen, verbirgt sich eine unglaubliche Kenntnis des Materials.

In den zwanziger Jahren entwickelte Vionnet die Technik des Schrägschnitts, die bis dahin nur bei Kragen, Besätzen usw. angewendet wurde, zur Perfektion. Sie fand heraus, daß, nur wenn man den Stoff in Richtung des Fadenlaufs schnitt, er die fließende Beweglichkeit entfalten konnte, die es möglich machte, daß ein Kleid sich an den Körper der Trägerin schmiegte, obwohl es keine Nähte zu haben schien. Die Haute Couture übernahm diese Technik, der die Mode der dreißiger Jahre ihre ganze Eleganz verdankt.

Hoyningen-Huene fotografierte 1931 ein Kleid für die Vogue, das aussieht, als wäre das Model in einen Korb mit meterlangen Stoffstreifen gefallen und hätte sich heillos darin verwickelt. Es wäre ein hoffnungsloses Unterfangen, dieses Geflatter und Gewehe zu beschreiben, und dazu ganz überflüssig, denn das Kleid fordert eindeutig, daß man über den Körper darunter spricht. Auf einem Bügel hängend, wäre es eine Katastrophe. Keine Hals- und Armausschnitte, keine Knöpfe, keine Säume. Niemand wüßte, wo oben und unten ist, vorn oder hinten, es sei denn, er hätte das räumliche Vorstellungsvermögen eines Kubisten.

Azzedine Alaia hat zu diesem Thema eine hübsche Anekdote beigesteuert: Eine Kundin hatte ihm erzählt, wie ihre Mutter eines Abends ausgehen und ein Kleid von Vionnet tragen wollte. Leider hatte ihr Mädchen vergessen, wie man das Kleid anzog. Sie experimentierten etwa 50 verschiedene Variationen durch und gaben dann auf. Der Hausherr marschierte ungeduldig in der Halle auf und ab, während Madame oben saß, frisiert, geschminkt, bereits in ihren Abendschuhen, und nervös eine Zigarette rauchte. Schließlich brüllte der entnervte Ehemann nach oben, daß er jetzt allein fahren werde. Madame schrie zurück: „Du kannst nicht fahren. Der Chauffeur holt gerade meine Schneiderin.“ Anja Seeliger

Jaqueline Demornex: „Madeleine Vionnet“. Thames and Hudson 1991, 305 Seiten mit wunderbaren Fotografien, etwa 80 Mark

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