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„Tragödie“ im Gericht

■ Raub mit Körperverletzung in zwei Fällen / Opfer und Ermittlungsbehörden verwechselten Täter

Die Anklage, die im gestern begonnenen Prozeß gegen Lamin N. verlesen wurde, hat es in sich: Dem 24jährigen Gambier wird vorgeworfen, im Juni 91 gemeinsam mit zwei Freunden dem türkischen Besucher einer Flüchtlingsunterkunft die Jacke mit 160 Mark gestohlen und das Opfer anschließend die Treppe hinuntergestoßen zu haben. Nur sechs Monate später nutzte Lamin N. laut Anklage den Silvestertrubel einer Discothek, um gegen drei Uhr nachts erneut mit Freunden einen Mann aus Nigeria unter Schlägen zur Herausgabe von 300 Mark zu zwingen. Zweimal Raub in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung – eine Verurteilung könnte für Lamin N., der seit Septemebr 1992 mit einer Deutschen verheiratet ist und eine zunächst bis 1997 beschränkte Aufenthaltserlaubnis hat, die sofortige Ausweisung bedeuten.

Der Angeklagte, zum ersten Punkt befragt, leugnet jegliche Teilnahme am Geschehen. Er sei an diesem Abend in besagter Unterkunft gewesen, um einen Freund zu besuchen, der jedoch nicht zu Hause war. Auf dem Heimweg, so Lamin N., habe er einen anderen Bekannten getroffen, mit dem er sich entschloß, einen Imbiß zu nehmen. Mit diesem Bekannten wurde er von der Polizei aufgegriffen, die mit dem Türken im Auto die Umgebung nach Tatverdächtigen absuchte. Nachdem Ilker Ö. versichert hatte, die beiden eindeutig als Täter wiederzuerkennen, nahm die Polizei alle mit zur Polizeiwache.

Auch im zweiten Fall fühlt sich Lamin N. zu Unrecht angeklagt. Er habe zwar an diesem Abend in Begleitung seiner späteren Frau Katja S., sowie eines befreundeten Ehepaares im „Roots & Culture“ Silvester gefeiert, aber die Discothek mit Katja schon lange vor dem Tatzeitpunkt verlassen. Eine Aussage, die diese ebenso wie die Freundin später bestätigen wird. Katja S., die ebenso wie Lamin erst einen Tag vor Prozeßbeginn vom zweiten Anklagepunkt erfuhr, kann sich die Tatsache, daß ihrem Mann diese Tat zur Last gelegt wird, nur durch eine Verwechslung erklären. Sie hätten, berichtet sie, schon einmal Post für einen Asylsuchenden gleichen Namens bekommen, der zu jenem Zeitpunkt nicht, wie ihr Mann, in Pinneberg, sondern in Heide untergebracht war.

Das hält niemand für möglich, identischer Name, identische Nationalität, identischer Geburtstag – das riecht verdächtig nach Mehrfachmeldung. So steht es auf den Gesichtern von Richter, Staatsanwältin und Schöffen, geschrieben. Immerhin hatte doch der beraubte Nigerianer den auf der Anklagebank sitzenden Lamin N. aus 50 vorgelegten Fotos herausgesucht. Nachdem jedoch der Rechtsanwalt des Beklagten die Akte der Ausländerbehörde beschafft, ist die „griechische Tragödie“, wie es Richter Mertens nennt, perfekt. Tatsächlich gibt es einen Lamin N., der im selben Land am gleichen Tag geboren wurde und hier als asylsuchend gemeldet war. „Das ist unser Mann“, schloß Richter Mertens haareraufend auf dem Flur, doch dieser Lamin N. war nicht da.

Ebensowenig erschienen die Opfer der beiden Vorfälle vor Gericht: Der Nigerianer, der möglicherweise auch ein Senegalese ist, ist wegen mehrfacher Aliasmeldungen bereits aktenkundlich bekannt und abgetaucht. Der Türke, der sich schon dem vorangegangenen Ermittlungsverfahren weitestgehend entzogen hatte, blieb ebenfalls fern. Der Richter, ungeduldig geworden, ordnete die polizeiliche Vorführung des Zeugen an. Doch die Beamten, die Ö. zu Hause nicht auffanden, erfuhren an dessen Arbeitsstelle, daß sich der Gesuchte wegen des Prozesses extra einen Tag freigenommen hatte. Daß Ö. trotzdem nicht erschien, fand das Gericht „so frech“, daß es eine Ordnungsstrafe von 300 Mark verhängte und beschloß, den Zeugen am 10.8. erneut mit polizeilicher Hilfe vorführen zu lassen. Sollte dies wiederum scheitern, könnten Richter Mertens schlimmste Befürchtungen eintreten, nämlich „daß sich das gesamte Verfahren auflöst“. dah

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