: Wo auch Linke Trachten tragen
In Coimbra, dem „portugiesischen Heidelberg“, steht die Tradition noch hoch im Kurs. Ein studentischer Verhaltenskodex schreibt die Kleiderordnung vor. Studentenfeste können für Erstsemestler zum Spießrutenlauf werden ■ Von Heike Mrozinski
Musik hallt über den Platz, und an den Tischen vor den Cafés ringsherum sitzen junge Leute, selbst im Winter. Der Praça da República liegt am Ende des akademischen Viertels und ist der Studententreffpunkt schlechthin. Im Laufe des Tages kommt hier jeder vorbei, auf dem Weg zur Mensa, zu den Räumen der Studentenvereinigung „Associação“ oder zur Universität. Die meisten Busse aus den Randbezirken halten hier, und auch die Kinos und das Theater Gil Vicente liegen in der Nähe. StudentInnen kommen und gehen, und der Geräuschpegel ist beachtlich. Begrüßungsküsse werden ausgetauscht, Bücher gelesen und Seminare nachgearbeitet, geflirtet und Verabredungen für den Abend getroffen.
Praça da República, Platz der Republik – es ist noch nicht allzu lange her, da hatten die Professoren und Studenten von Coimbra wenig zu schaffen mit der Republik. Die Universität war ein Hort republikfeindlicher Kräfte, hatte doch der Diktator Salazar hier einen Lehrstuhl für Jura und scharte die reaktionären Kräfte um sich. Bis in die sechziger Jahre hinein stand die Universität geschlossen hinter Salazar und unterdrückte die studentische Opposition mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln. Der Ausbau des Hochschulwesens nach der „Nelkenrevolution“ im Jahre 1974 sollte auch dazu beitragen, den Einfluß und Stellenwert der Universität von Coimbra zu schwächen.
Das alte portugiesische Sprichwort „In Porto wird gearbeitet, in Lissabon gelebt, in Braga gebetet und in Coimbra studiert“ ist nach wie vor zutreffend. Zwar gibt es heute zahlreiche Universitäten im ganzen Land, doch immer noch wollen viele Gymnasiasten in Coimbra studieren. Wer hier einen Studienplatz bekommen hat, ist stolz und trägt die Nase ein wenig höher. Mehr als achtzehntausend Studenten waren im akademischen Jahr 1993/94 an den sieben Fakultäten eingeschrieben – knapp zwanzig Prozent der Einwohner.
Die Universitätsgründung im Jahre 1290 durch König Dinis war eher ein progressiver Akt. Unter der Bedingung, daß die theologische Lehre weiterhin der Kirche obliegt, gab der damalige Papst seine Zustimmung, woraufhin die portugiesische Geistlichkeit kopfstand. Die Bischofsstadt Coimbra war das Zentrum der Katholiken, die nun den „schlechten“ Einfluß der modernen Wissenschaften fürchteten und nur sehr widerwillig ihr Monopol auf Bildung und Lehre aufgaben – besonders die Naturwissenschaften waren ihnen ein Dorn im Auge. Zahlreiche Kirchen und Klosteranlagen erinnern noch heute an die herausragende Rolle der Kirche in dieser Stadt. Ihr Einfluß reichte so weit, daß sie durchsetzen konnte, daß das „Studium generale“ – Kunst, Recht, und Medizin – in die neue Hauptstadt Lissabon „verbannt“ wurde. Mehr als zweihundert Jahre stritten Kirche und Königshaus um den Universitätssitz – mal lag er in Lissabon, dann wieder in Coimbra, und so ging es hin und her, je nach den Machtverhältnissen. Bis zu Beginn dieses Jahrhunderts war die Universität dann die einzige im Land, lag das Bildungsmonopol immer noch in Coimbra.
Schmale gepflasterte Gassen und breite Treppen führen steil hinauf in die Oberstadt, ins Universitätsviertel, von wo aus man auf die Stadt und den Rio Mondego hinabblickt. Der Weg dorthin ist mühsam – ebenso wie der des beruflichen Aufstiegs, den sich die meisten Studierenden für ihre Zukunft erhoffen. Oben angekommen, erkennt man sofort: „Normalsterbliche“ haben hier nichts verloren. Allenfalls Kastanienverkäufer und Putzfrauen und natürlich Touristen, die den in einem mittelalterlichen Festungspalast untergebrachten alten Universitätskomplex bestaunen, verirren sich hierher. „Ein jahrhundertealtes Bauwerk. Ein Werk vollendeter Schönheit und Sinnbild der Weisheit“, heißt es pathetisch in einer Broschüre der Touristeninformation, „ein Zauber erfaßt uns beim Durchschreiten der ,Porta Ferrea‘ – des Eisernen Tores. – Wir spüren vom ersten Schritt an den studentischen Geist und bewundern jene großartige Folge architektonischer Kostbarkeiten.“
Wer auf „architektonische Kostbarkeiten“ aus ist, sollte darauf achten, daß er von der richtigen Seite das „Eiserne Tor“ durchschreitet. Sonst blickt er nämlich auf architektonische Scheußlichkeiten, aber das verschweigt der Prospekt. In den vierziger Jahren ließ Salazar die meisten historischen Bauten der Oberstadt abreißen und, nach den Plänen des Architekten Alberto José Pessoa, an deren Stelle mächtige, schmucklose klassizistische Kästen hochziehen – Lehranstalten eben. Die Fakultäten für Geistes- und Naturwissenschaften, Medizin und die Universitätsbibliothek sind dort untergebracht. Ein beklemmendes Gefühl geht von den Gebäuden aus und erinnert an Kafka oder Fernando Pessoa, den wichtigsten portugiesischen Schriftsteller dieses Jahrhunderts. Die alte Universität jedenfalls hält, was das Touristenbüro verspricht, und beeindruckt durch die prächtige „Bibliotheca Joanina“ und die prunkvollen Festsäle, in denen akademische Feierlichkeiten stattfinden.
Gewöhnlicher geht es in der Unterstadt zu. Wie ein Schnitt zieht sich die Rua Ferreira Borges durch den Ort und trennt Universitäts- und Geschäftsviertel voneinander. Coimbras schickste und teuerste Einkaufsstraße ist immer gut besucht. Selbst an den Wochenenden, wenn die Studenten bei ihren Familien sind und die sonst quicklebendige Innenstadt wie ausgestorben wirkt, flanieren die Einheimischen über diese Straße wie auf einer Promenade in Lissabon. Bekannte Hersteller junger Mode haben sich genauso niedergelassen wie ein Hersteller von Naturkosmetika oder ein Laden mit der neuesten Musik, daneben viele Buchläden – die Geschäftsleute zählen die Studenten zu ihren wichtigen Kunden und haben sich auf deren Bedürfnisse eingestellt.
Parallel zu dieser Straße, ein paar Stufen tiefer gelegen, stößt man auf den ehemaligen Marktplatz „Praça do Comércio“ mit seinen schmalen, mehrstöckigen Bürgerhäusern und daran anschließend auf das Einkaufsviertel, das von engen Gassen durchzogen ist wie ein arabischer Souk – nur die Überdachungen fehlen. Sündhaft teure, wunderhübsche Spitze kann man hier ebenso kaufen wie Lacke, Schrauben, Nägel oder Fahrräder.
Ob in der Oberstadt oder in der Unterstadt, immer wieder fallen sittsam gekleidete Gestalten ins Auge, die irgendwie alle gleich aussehen. Der Anzug/das Kostüm, Weste und Krawatte und selbst die Schuhe – alles in Schwarz. Nur das Hemd/die Bluse ist weiß. Die Krönung ist ein schwarzer, beinahe bis zum Boden reichender Umhang, der im Sommer locker-lässig über den Arm oder die Schulter gelegt wird und im Winter den Mantel ersetzt. Das Tragen der Studententracht geht auf das Jahr 1537 zurück. Vielleicht als Provokation, vielleicht als Anpassung an kirchliche Riten gedacht, war sie damals der sichtbare Triumph dafür, daß die Universität endgültig in Coimbra bleiben sollte. Genaue Vorschriften, wie diese Tracht auszusehen hat, stehen im „Código de Praxe“, einer Art Verhaltenskodex für Studenten. Bei den Jungens heißt es beispielsweise: das Hemd muß einen richtigen Kragen haben, Schaftstiefel, Handschuhe, Armbänder und Ohrringe sind verboten. Die Mädchen dürfen keine Schuhe mit schmückenden Schnallen tragen, alles Modische ist ihnen ebenso verboten wie den Mitstudenten. Bloß nicht auffallen, bloß nicht aus der Reihe tanzen, scheint das Motto zu sein.
Seit den Studentenrevolten in den sechziger Jahren ist das Anlegen der Tracht freiwillig. Trotzdem hängt sie in beinahe jedem Kleiderschrank. André, Jurastudent, erklärt das so: „Nicht jeder, der die Tracht trägt, gehört automatisch in die konservative Ecke, ganz im Gegenteil. Auch Linke tragen sie.“ Stolz darauf, dieser Universität anzugehören, fühlten sich die Studenten verpflichtet, das Brauchtum von Coimbra am Leben zu halten, erzählt André.
Traditionelles steht hoch im Kurs in Coimbra, auch die Studentenfeste gehören dazu. Kaum hat das neue Studienjahr begonnen, wird erst einmal gefeiert, „Festa das Latadas“ („Polterabend“ oder „Fest der Blechbüchsen“). An dem Tag werden die Studienanfänger, die caloiros, den Bewohnern von Coimbra vorgestellt. Als Esel, „dumme Kuh“ oder Kleinkind verkleidet und eine Schnur Blechdosen hinter sich herziehend, werden sie von den padrinhos, das sind ältere Studenten, die sich im ersten Jahr um die Anfänger kümmern, mit viel Getöse und Humtata-Musik durch die Stadt geführt. Daß die Anfänger nicht viel zu sagen haben, läßt bereits die Verkleidung ahnen. Sie sind ihren padrinhos zu Gehorsam verpflichtet – und genau der wird an diesem Tag öffentlich auf die Probe gestellt. Die Anfänger müssen fremden Leuten die Schuhe putzen oder eine Liebeserklärung machen, während die Älteren drum herum stehen und kichern oder höllisch scharfe weiße Rüben essen. Alkohol fließt reichlich – die einen trinken, weil sie sich amüsieren, die anderen, damit sie sich amüsieren können.
Doch dies sind noch vergleichsweise harmlose Scherzchen. Schlimmer trifft es diejenigen, die auf Knien den praça überqueren müssen oder mehrmals hintereinander kopfüber in eisiges Brunnenwasser getaucht werden, nachdem ihnen zuvor Gesicht und Haare mit Joghurt zugekleistert wurden. Der Spaß hört dann auf, wenn es, wie im letzten Jahr geschehen, zu Todesfällen oder Vergewaltigungen kommt. Mit altem Brauchtum hat das nichts mehr zu tun, soviel ist auch den Studenten klar, und man ist sich einig darüber, daß der „Código de Praxe“ geändert werden muß. Doch über das Wie herrscht Unklarheit. Schließlich hat die „Praxe“ Tradition, und an Traditionen wird hier nicht gerüttelt, allen Zwischenfällen zum Trotz.
Gegen Ende des Studienjahres wird wieder gefeiert, „Queima das Fitas“, die Verbrennung bunter Bänder, die die Fakultätszugehörigkeit und das jeweilige Studienjahr erkennen lassen. Auf einem Wagen ziehen die Studenten durch die Stadt. Die Stimmung ist ausgelassen, diesmal haben alle ihren Spaß.
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