: Lesbische Fernfahrerinnen
Und reaktionär sind sie auch noch. Aber im San Francisco von Armistead Maupins „Stadtgeschichten“ wundert sich eigentlich keiner über sie ■ Von Jan Feddersen
Frau Elisabeth B. aus Karlsruhe hält es mit ihrer Unterrichtsvorbereitung phasenweise sehr knapp: Die Lehrerin liegt dann unansprechbar in ihrem Sessel und liest. Herr Christian G. aus Sindelfingen sollte eigentlich auf dem Fagott üben; statt dessen fliegt er in die Türkei, um in Ruhe eine ganze Buchreihe zu verschlingen. Herr Alexander H. meidet, ungewöhnlich, das Hamburger Nachtleben: Vier Abende hintereinander schon hat der angehende Ethnologe sich zu Hause eingegraben, um sich derselben Lektüre zu widmen.
Ihnen steht der Sinn ausschließlich nach Armistead Maupins „Stadtgeschichten“, einer sechsbändigen Romanfolge, die an der amerikanischen Westküste spielt und deren letzter Band nun in deutscher Übersetzung vorliegt.
Diese Herrschaften haben eigentlich nichts miteinander gemein, außer daß sie später irgendwann einmal „dahin“ möchten – nach San Francisco, in diese „Stadt der Hoffnung“, wie sie Christian G. nicht ohne Pathos nennt.
Die Rede ist von einem heimlichen Bestseller des deutschen Buchmarkts. Seltsam nur, daß die Literaturkritik sich merklich zurückhält.
Der Rezensent der Schweizer Weltwoche wünscht seinen Lesern das Buch „auf den Nachttisch“. Die FAZ sieht das ganz ähnlich; sie bespricht Maupins Stories unter der Überschrift „Was Tennisspieler gerne lesen“. Tennisspieler? Auch nicht richtig literaturwürdig. Ansonsten – große Ratlosigkeit. Die Zeit bespricht Maupin, allerdings nicht auf den Literaturseiten, sondern im „Modernen Leben“.
Aber zur Geschichte selbst. Ein Spruch von Oscar Wilde steht dem ersten Band voran: „Es ist merkwürdig, aber von jedem, der verschwindet, heißt es, er sei hinterher in San Francisco gesehen worden.“ Maupins Geschichte handelt zuerst davon, was passiert, wenn es einen aus kleinstädtischer Enge in eine Stadt verschlägt, in der die neueste, eklatant mißlungene Dauerwelle der Nachbarin, die letzte Lesung in der Stadtbibliothek oder die Leistungen anderer Kinder im Gymnasium nicht mehr ganz so wichtig scheinen. Kurzum: Der Zyklus handelt von einer Stadt und ihren Menschen, deren Offenheit nicht nur eine Legende der Fremdenverkehrsbroschüren ist, sondern eine Überlebenstechnik im Alltag. 700.000 Menschen leben in San Francisco, etwas weniger als in Köln, mehr aber als in Frankfurt: Aber hat man über deutsche Städte schon Musicals geschrieben oder dort weltweit erfolgreiche TV-Krimiserien angesiedelt? Wurde etwa Dortmund schon besungen als Stadt aller Städte?
Mit New York mag man in San Francisco nichts zu tun haben, man hält auf Gemütlichkeit. Sehr beiläufig zeichnet Maupin ein Lebensgefühl, das hierzulande erst mit dem pompösen Begriff „Multikulturalität“ gefordert werden muß: Laßt uns zusammenleben, irgendwie, es wird hinhauen.
Maupins Leistung besteht darin, das Psychogramm einer Stadt gezeichnet zun haben, die hier wie ein Dorf erscheint, das sich als Stadt ausgibt. Da ist die geheimnisvolle, ja fast mütterliche Anna Madrigal, Besitzerin eines Hauses, in dem auch Mary Ann Singleton, eine der Hauptfiguren, schließlich landet, um von dort aus die Stadt zu erobern. Oder Mona, die lesbische Freundin von Michael Tolliver, dem schwulen Mann, der seinen Traumprinzen sucht und ihn schließlich auch findet, aber erst im vierten Band, zehn Jahre später, als sein Liebster an Aids gestorben ist, erkennt, daß er ihn längst wieder verloren hat. Dann ist da noch Brian, der keine Lust mehr auf den Anwaltsberuf hat, aber ewig in der Rolle des Kellners scheitert; im dritten Band wird er endlich Mary Ann Singletons Freund und Mann.
Es sind Verschwundene, die in San Francisco wieder auftauchen, Bewohner einer Art „Lindenstraße“ im liberalen Amerika. Mit einem guten, ökologisch reinen, also selbstgezogenen Marihuanajoint sehen sie die Welt viel klarer. Ihr Minimalkonsens besagt, daß kein Mensch das Recht hat, andere zu peinigen. Weshalb übrigens schon im ersten Band mindestens eine Person unglücklicherweise über die Klinge springen muß. Maupin ist so freundlich, in seinem Roman die Bösen nur jeweils einen Band lang mitspielen zu lassen. Das ist zwar nicht wie im richtigen Leben, aber in San Francisco wird es vielleicht doch möglich sein.
Jede Reise – wenn auch pauschal arrangiert – ist das Experiment eines besseren Lebens: Selbst im billigsten Drei-Wochen-Grillen-am-Mittelmeer-Urlaub steckt diese Hoffnung. Daß die Wirklichkeit nach dem Urlaub die geheimen Wünsche blamiert, spielt keine Rolle. Auch hier paßt Albert Camus' Rat, man müsse sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen.
Die Literatur weiß davon und schürt die Reiselust. Der Beispiele gibt es genug. Das beste aber in der deutschen Literatur dieses Jahrhunderts: Kurt Tucholskys „Schloß Gripsholm“. Kein Roman hat das Schwedenbild demokratisch gesinnter Deutscher – neben den Büchern Astrid Lindgrens – so geprägt wie dieser. Die kleine, heiter bewölkte Geschichte eines nichtverheirateten Liebespaares, geschrieben in den dreißiger Jahren, als Deutschland der sittenlockeren Liebe keinen Raum ließ. Tucholskys Buch war mehr als eine Mißbilligung von „Irrtumsanstalten“ jedweder Art, es zeigte, so banal wie es klingt, daß Menschen auf eine keineswegs nur romantische Weise miteinander auskommen können.
Es wurde einer der Bestseller der fünfziger Jahre – als hierzulande noch christdemokratischer Wirtschaftswundermief samt dazugehöriger Wertschätzung von Familie, Kindern, Recht und Ordnung herrschte. „Schloß Gripsholm“ war damals auch ein moralisches Wunschprogramm einer halben Nation.
Armistead Maupin, 1944 geboren, Kolumnist und „Talk of the town“-Autor des San Francisco Chronicle, erfüllt heute mit seinen „Stadtgeschichten“ ein ähnliches Bedürfnis. In der Metropole San Francisco, in der seit Anfang der achtziger Jahre, auf den Bevölkerungsdurchschnitt gerechnet, die meisten Aids-Toten zu beklagen waren und sind, spielen viele Kulturen öffentlich eine Rolle – eine aber im Gegensatz zu New York ganz bestimmte: die der Schwulen und Lesben.
1971 kam Maupin aus durchaus mit seiner sexuellen Orientierung zusammenhängenden Gründen nach San Francisco. Kalifornien war damals ein Boomland, alles, was inzwischen die Soziologie als „Individualisierung der Lebensstile“ begreift, hat dort seinen Anfang genommen: Frisco war die Experimentierküche. Als Maupin Ende der siebziger Jahre seine Kolumnen in Romanform zu gießen begann, ahnte er zwar, daß die Leute seine Geschichten mögen würden, aber daß er Auflagenzahlen in sechsstelliger Höhe erreichen würde, hätte er wohl nicht zu träumen gewagt. „In San Francisco ist es bei Gott nichts Besonderes, schwul oder lesbisch zu sein. Und das wiederum ist vielleicht das Spezielle“, sagt Maupin. Und so sind auch die Schwulen und Lesben in seinem San Francisco bestenfalls eine Spur anders – aber wer ist das nicht in dieser Stadt, deren BewohnerInnen sich auf ihre individuellen Strickfehler meist viel zugute halten? Der homosexuelle Lebensstil hat in San Francisco keinen Ruch des „Anti“. Schwules eignet sich dort nicht als Vorlage zur Inszenierung eines Undergroundmilieus.
Nach der Lektüre Maupins jedenfalls leuchtet ein, daß der Liebeskummer eines Michael Tolliver keinesfalls von minderer Güte ist als der der Mary Ann Singleton. Dabei arbeitet Maupin nicht eben selten mit der Methode der haarsträubenden Pointe.
„Als Jugendlicher habe ich die Filme vo Billy Wilder sehr gern gesehen, weil sie genau diese Mischung haben, kein reines Drama und keine reine Komödie“, teilte er in einem Interview der Zeitschrift Magnus mit.
Beauchamp Day beispielsweise schildert Maupin im ersten Band als eine Figur, die einerseits großbürgerlich verheiratet ist, andererseits nachts durch die Homoszene San Franciscos streift. Kommt es zum Schwur, schimpft Beauchamp Day auf alles Homosexuelle. Zur Strafe läßt der Autor ihn mit dem Auto tödlich verunglücken – kurz nachdem er erfahren hat, daß seine ihm nur als spröde bekannte Gattin Dee Dee Day beim Seitensprung mit einem chinesischen Botenjungen versehentlich geschwängert wurde. Maupin läßt seine Helden nicht verkommen. Dee Dee Day genießt nach Mühen ein fulminantes Coming-out als Lesbe, ihre Mutter besucht nach dem Ableben ihres Mannes zuerst einmal eine Art Verwöhnfarm, auf der ihr all das geboten wird, was sie bisher entbehrte: junge, knackige Männer, die ihr zu Füßen liegen, ihr jeden Wunsch von den Lippen ablesen – endlich einmal keine Rücksicht auf den gesellschaftlichen Common sense der besseren Zirkel von San Francisco nehmen müssen.
Vielleicht erklärt sich auch so, daß die deutsche Literaturkritik ihren LeserInnen die Geschichten entweder unterschlägt oder zum beiläufigen Ding neben den Wecker auf den Nachttisch wünscht: Schwules wird von Maupin nicht ästhetisiert, Aids ist eine normale, sexuell übertragbare Krankheit, die fürchterlicherweise besonders diejenigen trifft, deren Sex ohnehin nie das Wohlgefallen der Bewohner Clevelands oder ähnlicher Städte fand. Aids ist nichts als Aids in San Francisco – traurig, aber wahr. Und Schwule und Lesben längst nicht nur Opfer, sondern auch Mitspieler in einem städtischen Milieu, das sie selbstbewußt mitprägen. Wo sonst sind lesbische Lkw-Fahrerinnen mit politischer Neigung zur Reagan- beziehungsweise Bush-Regierung denkbar, Lesben, die auch noch zuschlagen können? Maupins amerikanische „Lindenstraße“ in Buchform, die jedes Reality-TV schlägt, muß keine Rücksicht nehmen auf Marktsegmente, unverkäufliche Restsortimente und andere Geschäftsgrundlagen des Literaturgewerbes. In den USA, die Maupin nicht so roh und uneuropäisch erscheinen läßt, wie wir sie immer noch zu sehen gewohnt sind, hat er seine Lesergemeinde. (Inzwischen hat der britische Sender „Channel 4“ die „Stadtgeschichten“ verfilmt. Noch hat keine deutsche TV- Station Interesse angemeldet.)
Der sechste und letzte Band – wieder hervorragend übersetzt von dem Österreicher Heinz Vrchota – ist nun erschienen, Käufer der ersten fünf Teile bekommen ihn gratis. Elisabeth B. aus Karlsruhe, Christian G. aus Sindelfingen, Hannelore H. aus Husum und Alexander H. aus Hamburg beispielsweise. Es sind, mal kurz spekuliert, für eine kurze Lesezeit Spirituelle, die das Geleitwort zum dritten Band, Sir Thomas Browne zugeschrieben, wörtlich nehmen: „Gewiß weist ein jedes Leben eine Reihe von Reibungen, Umschwüngen und plötzlichen Impulsen auf, die eine Zeitlang als Wirkungen des Zufalls gelten mögen, bis sie sich endlich reiflicher Überlegung als deutlicher Eingriff der Hand Gottes enthüllen.“
Jeder Band der „Stadtgeschichten“ kostet 25 DM, erscheint im Verlag Rogner & Bernhard und ist bei „Zweitausendeins“ erhältlich. Bis zur Taschenbuchausgabe bei Rowohlt (April 95) ist es noch eine Weile hin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen