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Haiti wartet und wartet und wartet

Kommen die Amerikaner, kommen sie nicht? Unter Haitis Intellektuellen sind die Haltungen zu einer möglichen US-Intervention geteilt, und die Militärs scheint es ohnehin nicht zu jucken  ■ Aus Port-au-Prince Thomas Schmid

Damals, 1976, hielten ihn seine Nachbarn für verrückt. Doch Frankétienne hörte nicht auf sie und baute eine sieben Meter hohe Mauer um sein Haus. Damals herrschte noch Jean-Claude Duvalier alias „Baby Doc“ über Haiti und hielt sein Volk mit 300.000 „Tontons Macoutes“ in Schach, der privaten Geheimpolizei, die sein Vater, François Duvalier alias „Papa Doc“, gegründet hatte. Frankétienne fühlte sich, wie er sich heute erinnert, in jener Zeit nicht besonders gefährdet. Der Künstler war zwar als notorischer Gegner der Diktatur bekannt. Doch Angst hatte er nicht, „bloß eben die Intuition, daß es einmal wirklich gefährlich werden könnte“.

Heute ist er froh, daß er damals die Mauer gebaut hat. Seit dem September 1991, seit dem Putsch gegen Präsident Aristide, der als Armenpriester neun Monate zuvor einen fulminanten Wahlsieg errungen hatte, herrsche ein Terror im Land, sagt Frankétienne, der selbst denjenigen der Duvaliers in den Schatten stelle.

Noch aus einem anderen Grund ist Frankétienne froh, daß er die Mauer schon damals gebaut hat. 1976 kostete der Sack Zement einen haitianischen Dollar, heute 26 – umgerechnet 13 Mark. Das Embargo und die rasante Inflation machen dem Künstler schwer zu schaffen. Eine kleine Tuba Acrylfarbe kostet 50 Dollar, für die 35.000 Liter Wasser, die er für sich, seine Familie und sein Pflanzenparadies jeden Monat braucht, bezahlt er 600 Dollar; 1.000 Dollar braucht er fürs Benzin – der Liter zu sieben Dollar – für seinen Wagen und den seiner Frau, 350 Dollar für die Elektrizität. Insgesamt also 2.000 haitianische Dollar Fixkosten, umgerechnet etwa 1.000 Mark – wenn er mit einer Farbtube auskäme.

Frankétienne, einer der bekanntesten Maler und Schriftsteller Haitis, lebt in seiner stilvoll eingerichteten zweistöckigen Villa, die er als Galerie ausgebaut hat, wie Gott in Frankreich – jedenfalls im Vergleich zu den allermeisten seiner Landsleute. Der Sohn des früheren Direktors der haitianischen Eisenbahn, eines US-Amerikaners deutscher Abstammung, und einer schwarzen Haitianerin, gehört also zweifellos zur Elite. Doch ist er in gewisser Weise ein Klassenverräter. Zwölf Jahre lang hat er allen Drohungen und Einschüchterungen zum Trotz ein sozialkritisches Theater geleitet und als erster Schriftsteller Haitis hat er auf kreolisch geschrieben, der Sprache der einfachen Leute. Nur etwa zehn Prozent der Haitianer, vor allem die Oberschicht der Mulatten, sind des Französischen mächtig, der Sprache, in der die beiden Zeitungen des Landes erscheinen.

„Es wird Tote und zerstörte Häuser geben“, sagt Frankétienne, „aber die Massen, die Aristide gewählt haben, wollen die Invasion, und wäre es die Invasion des Teufels.“ Und er hat, obwohl es nicht seine Option ist, durchaus Verständnis dafür.

Tote gibt es auch jetzt schon. Jeden Tag. Aus Le Borgne im Norden des Landes sind Hunderte Bauern, deren Häuser zerstört wurden, in die Hauptstadt geflohen. Nein, die Leute hätten keine Angst vor einer amerikanischen Intervention, sagt Frankétienne, „weil sie schon in einem besetzten Land leben – besetzt von der eigenen Armee“, und schlimmer als die könne eine ausländische Armee gar nicht sein. Als ein bislang unbekanntes „Komitee des nationalen Erwachens“, hinter dem sich die rechtsextreme neoduvalieristische FRAPH versteckte, Mitte Juli zu einer Kundgebung gegen die Invasion aufrief, kamen denn gerade knapp tausend Personen – vor allem Angestellte der Ministerien, denen man frei gab. „Die hätten genauso gut für eine Intervention mobilisieren können“, spottet Frankétienne, „und es wären auch tausend gekommen – dieselben.“

Die Opposition hingegen hat sich das Demonstrieren längst abgewöhnt. Zwangsläufig. Eine öffentliche Kundgebung für die Rückkehr Aristides ist in Port-au- Prince jenseits des Vorstellbaren, irgendwo an der Grenze zu Selbstmord. Die letzte solche Demonstration fand vor über einem Jahr statt. Am 3. April 1993 hatte eine Gruppe von Priestern und Ordensschwestern zu einer Prozession aufgerufen. „Es war natürlich als Demonstration gedacht“, gibt Pater Gérard Jean-Juste heute freimütig zu, „wir wollten zum Marsfeld ziehen.“ Dort, auf dem zentralen Platz der Hauptstadt, hätten aber bereits die „Attachés“, die bewaffneten Duvalieristen, auf sie gewartet, und so habe man die Prozession vorzeitig aufgelöst, um ein Blutbad zu vermeiden.

Pater Gérard ist in der „Tit Legliz“ aktiv, der Basiskirche des Landes. Doch die ist aufgrund der harten Repression desorganisiert. Viele Priester wurden verhaftet und mißhandelt. „Und die Bischöfe schauten zu, der hohe Klerus tat nichts“, empört sich der Kirchenmann, „und daß dann der Vatikan als erster und bisher einziger Staat das Putschistenregime anerkannte, hat uns schon arg enttäuscht.“

Pater Gérard, der irgendwo in der Zweimillionenstadt Port-au- Prince versteckt lebt, ist gegen eine Invasion der Amerikaner, auch wenn „die Massen“, wie er sagt, sie wünschen. Er hofft auf „ein Wunder in letzter Minute“. „Wenn die Amerikaner kommen, dann werden sie ihr blaues Wunder erleben“, sagt George Michel, Verfasser eines Buches über Charlemagne Péralte, der während der letzten amerikanischen Besetzung des Landes 1915 bis 1934 die Revolte der Bauern anführte. In den 20 Jahren kamen 50.000 Haitianer ums Leben. Nein, das Volk werde einen Präsidenten, der auf der Spitze der US-Bajonette zurückkehrt, nie und nimmer akzeptieren. Man werde Aristide töten, prophezeit der Publizist.

„Die USA hinterließen uns diese Armee“

Der Historiker Roger Gaillard, Verfasser eines fünfbändigen Werkes über die Zeit der US-Okkupation, stellt hingegen nüchtern fest, daß die Haitianer sich damals erst 1917, als sie zur Zwangsarbeit im Eisenbahnbau verpflichtet wurden, gegen die Besatzung aufgelehnt haben. „Das einzige, was die Amerikaner uns dann nach 20 Jahren hinterlassen haben“, sagt Gaillard, „ist diese Armee, die das Land in eine so schwierige Situation gebracht hat.“

Kommen sie, kommen sie nicht? Die drohende Invasion macht seit Wochen Schlagzeilen auf den Titelseiten der beiden Zeitungen des Landes. Jeder Furz amerikanischer Politiker wird ausgewertet. Zwar kommen durchaus auch regimekritische Stimmen zu Wort. Doch im Tenor ist man sich mit der Regierung einig: Eine Invasion wäre eine Verletzung der Würde der Nation. Von der täglich mißachteten Würde der Menschen ist bestenfalls in Kurzmeldungen die Rede. Aber was bedeuten schon Zeitungen in diesem Land, wo 85 Prozent Analphabeten sind? Selbst Haiti Progrès, die linke Wochenzeitung, die die Diktatur umstandslos kritisiert und aus einer antiimperialistischen Position heraus gegen eine ausländische Intervention Front macht, wird nicht behelligt. Das Exilblatt, das in New York erscheint und bis Juni importiert wurde, wird seit der Einstellung der US-Flüge nun auch in Port-au-Prince gedruckt.

Nein, die Pressefreiheit ist nicht in Gefahr, weil eine freie Presse für die Regierung keine Gefahr bildet. Wer kann sich schon eine Zeitung zum stolzen Preis von umgerechnet 50 Pfennig leisten – bei durchschnittlichen Monatslöhnen von unter 200 Mark? Die Anhänger der „Lavalas“ (Erdrutsch), der breiten, amorphen sozialen Bewegung, die Aristide in den Präsidentensessel gespült hat, jedenfalls am wenigsten. Sie gehören den ärmsten Schichten an, sind ohnehin des Lesens kaum kundig und haben gewiß andere Sorgen als Politik. Der alltägliche Überlebenskampf frißt alle Energien auf.

Außer landwirtschaftlichen Erzeugnissen produziert das Land so gut wie nichts mehr. Doch gibt es auf dem ausufernden Markt in der Innenstadt, wo sich der Abfall zu oft meterhohen Bergen türmt und tagelang in der tropischen Hitze dahinmodert, fast alles zu kaufen. Alles nur eine Frage des Geldes. Benzin wird an jeder zweiten Straßenecke verkauft, abgefüllt in kleine gelbe Kanister, 26 haitianische Dollar (13 DM) die Gallone (3,8 Liter).

„In der Stunde der Gefahr halten die zusammen“

Die Grenze ist nur 35 Kilometer entfernt, doch für Journalisten unerreichbar. Die Regierung hat das Grenzgebiet zur Sicherheitszone erklärt und gesperrt. Die Militärs wollen sich beim Schmuggel nicht in die Karten schauen lassen. Auf Druck des Weißen Hauses hat die Regierung der Dominikanischen Republik zwar 15.000 Soldaten an die Grenze beordert, angeblich um den Schmuggel zu unterbinden, doch besteht ihre wirkliche Aufgabe offenbar darin, haitianische Flüchtlinge abzuwehren. Fünf Gourdes, umgerechnet 50 Pfennig, müsse er pro Gallone bei den Dominikanern abdrücken, gesteht Louis, der in „Kuwait-City“ arbeitet, der Hafenstraße von Port-au- Prince, wo täglich Laster mit Fässern anrollen. Zweimal wöchentlich fährt er an die Grenze, versteckt seine zehn Fässer und schmuggelt das Benzin in kleinen Kanistern herein, füllt seine Tonnen und fährt sie auf dem offenen Laster durchs Land. Nun sollen schon bald 50 US-Soldaten und 88 UN-Beobachter, mit Hubschraubern und Nachtsichtgeräten ausgestattet, das Geschehen an der Grenze überwachen.

Bislang hat das Embargo jedenfalls nicht den gewünschten Effekt. Die Militärführung um Cédras gibt sich unbeeindruckt, und die Hoffnung, daß sich die Geschäftswelt, die von der Sperrung der Bankkonten und der Einstellung der US-Flüge am stärksten betroffen ist, von den Generälen absetzt, hat sich als trügerisch erwiesen. „In der Stunde der Gefahr“, sagt Micha Gaillard, „halten die zusammen.“ Dann zeige sich eben, daß General Cédras die Interessen einer Klasse wahrnimmt – gegenüber den Massen, die ihre Rechte einfordern. Micha Gaillard ist Führungsmitglied des Conacom (Nationaler Kongreß Demokratischer Bewegungen), der für den moderateren Teil der Aristide-Anhänger steht. Er war als Mitglied der Präsidialkommission an allen Verhandlungen zwischen den Militärs und Präsident Aristide beteiligt, die im Juli 1993 mit dem Pakt von Governor's Island besiegelt wurden. Damals versprach Cédras, bis Oktober zurückzutreten und den Weg für Aristide freizumachen. Kurz vor dem vereinbarten Rücktrittstermin besann er sich eines anderen – und Aristide blieb in seinem Washingtoner Exil.

Damit war der neue Zyklus der aktuellen Krise eröffnet, die nun Haiti an den Rand einer US-Intervention gebracht hat. „Aber aufgepaßt“, warnt Gaillard, „das Problem der USA ist nicht, Cédras loszuwerden, sondern die Massen im Zaun zu halten. Weshalb wollen die sonst 15.000 Soldaten stationieren?“

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