: Laufen Sie!
■ Philippe Sollers an Taslima Nasrin
Liebe Taslima Nasrin,
Sie erhalten sicher körbeweise Solidaritätsbriefe von westlichen Intellektuellen und Literaten, fromme Worte, Nachdenkliches, Moralisches oder Ehrliches. Wie gewandt sie von Gerechtigkeit und Freiheit sprechen! Wie überlegen sie den verrückten fundamentalistischen Mördern sind!
Sie führen ein sehr gutes Leben, ohne wirkliche Probleme, sie unterzeichnen Petitionen, sie treten für Frieden, Lebensstandard und Meinungsfreiheit ein. Sie erheben sich gemeinsam gegen jedes Anzeichen eines neuen Faschismus, dieses Mal in Italien (ohne auch nur zu erwähnen, daß von Clinton bis Delors, von Mitterrand bis Kohl schönste Eintracht gepflegt wird mit dem charmanten Telekraten Berlusconi).
Bevor sie in Urlaub fahren, warnen sie vor den bösen Geistern, die die Demokratie bedrohen. Moral und Wahrheit ist alles, worüber sie sprechen, die Verteidigung der Unterdrückten, die Opfer der Anschläge – aber nichts, gar nichts in ihrem Leben oder in ihren Schriften deutet auch nur auf die geringste Initiative für die individuelle Freiheit hin. Das heißt, das einzige, das ihnen etwas bedeutet, ist eine kollektive Abstraktion, die nicht den geringsten Bezug zur physischen Realität hat. Na bitte, nun machen sie sich über Sie her. Wird Sie das trösten? Ich bezweifle es.
Heuchelei ist nicht meine Stärke, deshalb möchte ich Ihnen etwas ganz anderes sagen. Daß Sie eine freie Frau und eine Autorin sind, ist an sich noch kein besonderes Verdienst, auch wenn Sie in einer unmöglichen Lage sind. Drehen Sie Ihren verrückten Verfolgern den Rücken zu, gehen Sie nach Schweden, leben Sie, wie es Ihnen gefällt, schreiben Sie, was Sie wollen. Die christliche, faschistische und stalinistische Geschichte ist voller Schriftsteller, die zu irgend einem Zeitpunkt im Namen des göttlichen oder staatlichen Rechts geächtet wurden. Nun auch der Islam? Zur Weißglut gebracht im Namen des Koran? Was für ein Elend!
Am Ende jedenfalls muß sich die Sache zu Ihren Gunsten entscheiden (kann schon sein, daß das noch zwei Jahrhunderte dauern wird). Das Problem liegt aber eigentlich woanders: Es besteht darin, diese Maskerade der vorübergehenden Verurteilung ernstzunehmen. Da schnappt die Falle zu: Absichtserklärungen, der große „Kampf“, der Aufruf zum Widerstand, die morbide – ja morbide! – Faszination, die Menschen, selbst die „aufgeklärtesten“, für das Martyrium empfinden. „Vor allem: keine Märtyrer“, hatte seinerzeit Voltaire an seine Freunde Concorcet oder d'Alembert geschrieben; und genau wegen dieser Haltung wird Voltaire bis heute gehaßt (man tut so, als würde man seiner gedenken, aber niemand mag ihn). Kein Opfer, kein Martyrium, keinen emblematischen Tod: darin besteht die große Blasphemie, das Schlimmste, was es in den Augen der gesamten geistigen Welt gibt. Sie müssen nicht für diesen oder jenen Gott sterben, noch weniger für die Menschenrechte oder die der Frau. Sie brauchen auch keine Heldin der westlichen Welt zu werden, in der eine Woge konformistischen Denkens auf einen publizistischen Sturm trifft. Sie brauchen weder Krokodilstränen noch wollen Sie als Model vorgezeigt werden. All das speist sich noch immer aus der alten religiösen Manie, der – man muß es leider so sagen – der bewundernswerte Salman Rushdie sich anpassen muß. Was man Ihnen schuldet, ist Geld, Recht auf Asyl, Sicherheit. Keine schönen Worte, sondern Taten. Und dafür darf man von Ihnen nicht im Gegenzug „humanistische“ Deklarationen verlangen. Es gibt Besseres, oder vielmehr Schlimmeres zu tun: all dies mit Hohn, Verachtung und einer wegwerfenden Geste beiseite zu wischen. Was bedeutet es schon, wenn die „großen Schriftsteller“ Sie ihrer Solidarität versichern? Wenn sie die Mordaufrufe und die Morde selbst ernst nehmen, entwaffnen sie die Wahrheit, machen sich zu unbewußten Komplizen einer gigantischen neuen Gewaltmaschinerie. Wir brauchen keine Moral, keine Betroffenheit, keine aufrechten Gefühle, romantischen Proklamationen, sentimentalen Ergüsse, Mitleid, Barmherzigkeit, Authentizität, sondern eine systematische Ungläubigkeit. Ich habe den größten Respekt für Albert Camus, André Malraux, Alexander Solschenizyn, aber ich ziehe Voltaire bei weitem vor. Voltaire haßte den Terror und den Fanatismus dermaßen, daß er keine Worte dafür fand, wie furchtbar sie sind – das hätte für ihn auch bedeutet, ihnen auf eine Art sogar entgegenzukommen.
Im Westen, liebe Taslima, hängt das Ansehen eines Schriftstellers davon ab, wie „ernsthaft“ er ist, das heißt, inwiefern er bereit ist, die große Fiktion unserer Gesellschaft zu stützen, daß wir schon morgen in die Gebiete vordringen werden, in denen der Koran noch Bedeutung hat. Man fordert von ihm, unseren Koran zu zitieren, das Gute, die Moral, die Menschenrechte, die Treue zu einem Ideal und was der edlen Anliegen mehr sind. Sie müssen mit den Attentätern leben (zum Beispiel in Algerien), wir mit dem Zynismus der weitverbreiteten Korruption. Egal, sowohl der Katechismus als auch der Koran zwingen Sie, eine Märtyrerin zu sein. Wenn Ihr Leben in Gefahr ist, sollten wir aufhören, zu denken. Sind Sie ein Rebell, nicht unterzukriegen? Und das ist es, was Sie in jedem Fall und überall wären? So jedenfalls stelle ich Sie mir vor, deshalb dieser Brief. Vertrauen Sie niemandem. Glauben Sie niemandem. Bringen Sie sich in Sicherheit. Philippe Sollers
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