piwik no script img

Lola Love, die Nebenbeikünstlerin

Sie hat den schönsten Namen der Welt und ist so alt wie ein ganzes Jahrhundert / Chronik eines Doppellebens: Tagsüber arbeitete sie als Stenotypistin, nachts sang sie in Kabaretts und Varietés  ■ Von Thorsten Schmitz

Man schreibt das Jahr 1893. Peter Tschaikowski beendet gerade noch seine 6. Symphonie „Pathétique“, bevor er im November in Petersburg, 43jährig, stirbt. Stephen Grover Cleveland wird zum zweiten Mal Präsident der USA, und eine der Vorkämpferinnen der Gleichberechtigung, Helene Lange, gründet in Deutschland die Zeitschrift Die Frau. Rudolf Diesel baut erstmals seinen gleichnamigen Motor, und Berlins Polizeipräsident verfügt, daß Gaststätten und Bars zwischen 4 und 6 Uhr morgens schließen müssen. Im Schwarzwald gründen Wintersportler den ersten deutschen Skiclub und Bauern den konservativen „Bund der Landwirte“.

In diesem Jahr, am 23. Juni, wird Lola Löwe in Berlin geboren.

Ihre Mutter, eine gebürtige Russin, tritt als Koloratursängerin Ada Arrita auf. Ihr Vater, William Löwe, ein Workaholic, ist Theaterdirektor, Schauspieler, Regisseur, Schriftsteller und Theateragent zugleich.

Seit 1946 trägt Lola den schönsten Nachnamen der Welt, „weil die Amerikaner kein ö aussprechen können“. Aus Löwe wurde Liebe: Lola Love steht in ihrem Personalausweis und an ihrer Wohnungstür. Die Frau lebt noch immer. Sie ist 101 Jahre alt.

Endstation Wilmersdorf. In einer genormten Mietskaserne bewohnt Lola Love zwei kleine Zimmer. Sie hat ihr Hörgerät nicht an, man muß mit ihr brüllen. Sehen kann sie kaum noch etwas. Aber immerhin so viel, daß sie den Berichterstatter mit Erdbeerkuchen verpflegt, „weil Sie so verhungert aussehen“.

Frau Love klebt an ihrer Erinnerung. Das heißt: die Erinnerung klebt an ihr. Sie wird sie nicht mehr los. Und eigentlich ist diese Erinnerung das einzige, was sie am Leben hält. Wenn sie alleine ist – und sie ist fast immer alleine –, das Hörgerät ausgestöpselt hat und nichts tut, rasen Bilder früherer Wohnungen und Gesichter und Bewegungen von Freunden und Freundinnen an ihr vorbei. „Als wenn ich im Kino bin.“

Und weil dieses „Heimkino“ keinem Drehbuch gehorcht, gehorchen die Momente keiner Dramaturgie. Was diese Dame und „Nebenbeikünstlerin“, wie sie sich nennt, in 100 Jahren erlebt hat, übersteigt jegliche Speicherkapazität. Lola Love sagt ziemlich oft „weiß nicht“. Und die zwei Weltkriege? „Da waren Bomben.“

Deshalb läßt sich ihr Leben nur bruchstückhaft rekonstruieren. Außerdem hat sie keine Kinder, keine Geschwister, keinen Ehemann, und sie hat alle Freunde und Verwandten überlebt. Niemand, den man fragen könnte, wenn die Erinnerung von Frau Love stockt.

„Dreimal war ich verlobt“, sagt sie. Der erste war ein Friese, studierte Medizin, trug einen Schmiß, war groß, blond, blauäugig. Love und er lernten sich in Westerland auf Sylt kennen, wo sie mit ihrer Mutter war. (Ihr Vater starb, als sie neun Jahre alt war.) In einem Café, erinnert sich Frau Love, „rückte er damit raus, daß er sich eine Praxis einrichten wollte“. Lolas Mutter aber versperrte sich diesem Ansinnen: „Vorläufig bin ich noch am Leben und brauche mein Geld für meine Tochter“, soll sie gesagt haben.

Der zweite, mit dem sich Lola Love verlobte, arbeitete als Architekt und war „begabt“. Leider hatte er einen Makel: Er trank ziemlich viel.

Den dritten Verlobten schließlich hatten Lolas Eltern für sie bestimmt, einen Rechtsanwalt mit gutgehender Kanzlei in der Motzstraße. „Aber den liebte ich nicht. Den wollte ich nicht, weil ich immer an meinen ersten Freund denken mußte.“

So blieb Frau Love ohne feste Beziehung. Arbeitete als „Behördenangestellte“ in Konsulaten, beim Auswärtigen Amt in der Wilhelmstraße, bei mittelgroßen Unternehmen als Stenotypistin. Dachte „nie“ an Vergnügungen, „wie heute die Jugend“. Und bedauert, „nur gearbeitet“ zu haben: „Ich Idiot, Idiot!“

Die einzige Unregelmäßigkeit in Loves Leben war zugleich ein zaghafter Versuch, die bürgerliche Welt hinter sich zu lassen: Nach dem Ersten Weltkrieg begann sie, in Varietés, Kabaretts und kleinen Hinterhoftheatern Operetten und Musicals zu singen.

Nach der Sekretariatsarbeit eilte sie nach Hause, die Haare hochgesteckt, die Lippen geschminkt, ein Abendkleid übergestreift – und auf die Bühne, vors Publikum. Am nächsten Morgen ging sie zwar hundemüde ins Büro. Aber glücklich. Der Applaus, das Lampenfieber, die Bewunderung: Das war die Welt, nach der sie sich sehnte.

Ihre Eltern wollten davon gar nichts wissen. Zwei Künstler in einer Familie, fanden sie, das reicht. Aus Lola Love sollte etwas Richtiges werden. Es wurde ein richtiges Doppelleben.

Lola Love konnte sich in den zwanziger Jahren kaum retten vor Angeboten. Sie hätte hauptberuflich Künstlerin werden können. Getraut hat sie sich das allerdings nie.

Es war die schönste Zeit in ihrem Leben. „Am liebsten hätte ich mein ganzes Leben lang nur gesungen.“ Die Niederbarnimer Zeitung schreibt am 17. Juni 1919: „Zum Frühlingsfest in den gesamten neu renovierten Räumen des Weltrestaurants Hirschgarten hatten unsere Feldfrauen vom Reservelazarett Hirschgarten am Sonnabend eingeladen. Eine Reihe von Künstlern und Künstlerinnen hatte sich in den Dienst der guten Sache gestellt, und der reichlich gespendete Beifall lohnte ihnen ihre Mühe. Frl. Löwe, Berlin, erfreute durch einige prickelnde Vorträge.“

Die zweite Existenz der Lola Love endete abrupt unter Hitler. Auftreten konnte sie nun nur noch selten, und während des Zweiten Weltkrieges mußte sie zusammen mit russischen Kriegsgefangenen in einer Batteriefabrik in Oberschöneweide Zwangsarbeit leisten. Weil ihr Vater Jude war.

Nur einem Zufall hatte sie es zu verdanken, daß sie nicht in ein KZ deportiert wurde: Eine Kollegin riet ihr, am nächsten Tag nicht zur Arbeit zu erscheinen, alle würden „abgeholt“. Lola Love ging nicht zur Fabrik. Sondern flüchtete, im Februar 1943, nach Würzburg. Dort arbeitete sie bis Kriegsende inkognito in einem Werk für Schiffsreparaturen.

Nichts hielt Lola Love mehr in diesem Deutschland. Ihre Eltern waren tot, der Krieg hatte alle Freundschaften zerstört. 1946 fuhr sie mit dem Schiff nach New York. Und blieb dort bis 1965.

In Manhattan fühlte sie sich frei, spürt keinen Zwang, rauchte täglich zwei Päckchen Zigaretten. Und trat auch auf. Immer nach der Arbeit.

Für ein Jahr verlegte sie ihren Wohnsitz nach Kalifornien, Santa Barbara. Lebte und sang dort, wohin viele Juden emigriert sind. Ihre Erinnerung an diese Zeit ist immer an einen Sonnenuntergang an San Franciscos Golden Gate Bridge geknüpft. Und an Garnelen mit Mayonnaise, dazu ein Glas Sherry.

Das subtropische Klima New Yorks und Santa Barbaras setzten ihrem Herzen so stark zu, daß sie nach 20 Jahren beschloß, wieder in ihre Heimat zurückzukehren. Das heißt, Lola Love dachte, Berlin sei ihre Heimat. Aber eigentlich hatte sie gar nichts mehr mit der Stadt zu tun. „Ich hasse Berlin“, sagt sie heute. Und meint: Ich hasse mich dafür, daß ich zurückgekommen bin. Es macht sie wütend. Schließlich hätte „ich ja auch in Amerika ein Land mit gemäßigtem Klima finden können“.

Sie behauptet, sie könne nicht mehr singen. Sagt: „Ich habe meine Stimme verloren.“ Doch plötzlich, sie läßt die Kuchengabel fallen, durchschneidet ihre glasklare Stimme die Stille. Und singt Franz Lehars „Wien, Wien, nur du allein, sollst die Stadt meiner Träume sein...“ Ihren Blick ins Nirgendwo gerichtet, mit den Gedanken in der schönsten Zeit ihres Lebens, beamt sie sich in die zwanziger Jahre zurück. Mein Applaus holt Lola Love wieder zurück. Und zaubert ein feines Lächeln auf ihr Gesicht.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen