: Travestie im Cyberspace
Im Reich der Computerkommunikation nutzen viele die relative Anonymität des Mediums, um in die Rolle des anderen Geschlechts zu schlüpfen ■ Von Alyssa Katz
TMC schwärmt für ihre Schöpfung. „Ich würde sofort ein Rendezvous mit ihm ausmachen.“ Sie glaubt, daß er der prächtigste Typ im Computernetz ist. Wenn sich Frauen in Usenet-Diskussionsgruppen über das speicheltriefende Gesabber der Schürzenjäger im Netz auskotzen, dann gehört er ganz bestimmt nicht zu dem Dutzend anderer Männer, die schleimige Beileidsbriefe ins E-Mail- Netz schicken, Botschaften wie: „Es tut mir furchtbar leid, daß diese anderen Typen solche Mistkerle sind.“ Für TMC ist er Mr. Right. Denn TMC hat ihn geschaffen. Im Datennetz war sie häufig er.
TMC, Schriftstellerin und Freundin mehrerer Systemanalytiker, ist vielseitig. Sie liebt es, männliche Charaktere als Alter ego zu erfinden und auszuprobieren. Aber nach einem haarsträubenden Zwischenfall ging TMC auf Entzug. „Ich habe nur experimentiert“, erklärt sie, „als ich auf Usenet etwas sah, worauf er geantwortet hätte. Ich ließ ihn. Daraufhin hat eine, mit der ich mich vorher als mein weibliches Selbst unterhalten hatte, zurückgeschrieben.“ Die beiden stürzten sich in einen privaten Austausch, und mit der Zeit „schien sie ein romantisches Interesse zu entwickeln. Also habe ich ihr erzählt, er müsse auf Geschäftsreise gehen.“ Der Trick hätte beinahe funktioniert. Bis jemand der liebeskranken Frau einen Hinweis gab und diese wiederum schnell einige ihrer männlichen Computerfreunde einschaltete, um TMC zu enttarnen. Das Datennetz war bis dahin TMCs Gemeinschaft gewesen, das Zentrum ihres Soziallebens; plötzlich war sie eine Paria. Die Qualen waren zu groß – sie hat geschworen, nie wieder einen Mann zu spielen.
Computertravestie – jedeR probiert's einmal
Wie weit verbreitet Computertravestie ist, weiß niemand ganz genau. Unterhält man sich privat mit Computerfreaks, dann bekommt man den Eindruck, hier gelte das gleiche wie für Homo-Sex: JedeR probiert es zumindest einmal. Und wie bei der Kriminalität geht es vor allem um eines: nicht geschnappt zu werden. Das ist natürlich machbar, aber genauso wie das Abbinden der Brüste oder das Rasieren eines bikinigerechten Dreiecks kann es verdammt mühsam sein. Denn die Verwalter der Computersysteme versuchen, vorgetäuschten Identitäten einen Strich durch die Rechnung zu machen, indem sie einen unangemeldeten Anruf tätigen oder Kreditkarteninformationen überprüfen. Auch Universitäten und Firmen, deren Systeme gern benutzt werden, ahnden Grenzüberschreitungen mit Rauswurfdrohungen. Man muß eine ziemlich listige Technikliebhaberin sein, um ein Umfeld zu überlisten, in dem jede Transaktion aufgezeichnet und ausgewertet werden kann. TMC hat es jedesmal einen ziemlichen Adrenalinstoß versetzt, sich durch ein kompliziertes Flechtwerk von Datenlisten einzuloggen, um jegliche Verfolger abzuschütteln.
Ein Uneingeweihter muß eine Weile im Nebel stochern, um Überläufer zu finden. Schick eine Anfrage, daß du Frauen suchst, die vorgeben, Männer zu sein – und du kannst davon ausgehen, daß Männer antworten. Sie werden dir Geschichten von Nächten in Damenunterwäsche erzählen, mit lauter Details über D-Körbchen und Strumpfbänder. Ein Freiwilliger erzählt: „Ich habe ein Mädchen gespielt, um zu sehen, wie viele bemitleidenswerte Typen auf mich als achtzehnjähriges, blondes Mädchen antworten würden, das billigen, bedeutungslosen Sex sucht.“ Er habe ungefähr fünfzig Antworten bekommen, „überwiegend eindeutige“.
Natürlich ist das ganze verdammt homoerotisch. Aber es ist genausogut eine Manifestation der Heterokultur, die eine ehrwürdige Tradition literarischer Erotika fortsetzt: Veröffentlichungen von männlichen Autoren unter Frauennamen. Für wirkliche Frauen ist in diesem System nicht viel Platz. Sie haben die Wahl, an einer der elektronischen Pinnwände für Erwachsene entweder den Playboy oder das Häschen zu spielen. (Lesbenwände beginnen gerade aufzublühen: eingeschaltet bleiben!) Deshalb nehmen die Frauen ihre sexuelle Identität selbst in die Hand. Zum einen verbergen sie ihr Geschlecht, um Belästigungen zu vermeiden, aber sie verändern ihre Identität auch, um utopische Möglichkeiten auszuprobieren, soziale Geschlechtskonstruktionen zu überschreiten; um den Kick zu genießen, die Männer im patriarchalen Spiel zu schlagen; um Sex mit Leuten zu haben, die sie anderenfalls nicht einmal mit dem Hintern angucken würden. Und sie beten dabei, daß sie nicht geschnappt werden.
Die sozialen Vereinbarungen der verschiedenen On-line-Systeme sind fragile Wesen, die auf einem Konsens basieren, der sich von System zu System ziemlich drastisch ändern kann. Was in einer Multi-User-Dimension (MUD) durchaus koscher ist, geht im CompuServe möglicherweise nicht durch. Die Regeln sind weitestgehend unausgesprochen, und von den Neuzugängen wird erwartet, daß sie selbst ein Gefühl dafür entwickeln und sich entsprechend verhalten. In E-Mail, dem gemeinsamen Nenner der verkabelten Welt, ist der unehrliche Umgang mit Geschlechtsangaben tabu. Falsche Aussagen zur eigenen Identität zu machen gilt als krasses Vergehen, weil es das Vertrauen unterläuft, das die Leute benötigen, wenn sie ohne die stimmlichen und visuellen Hinweise kommunizieren, die der persönlichen Interaktion normalerweise Gestalt verleihen.
Aber einige RebellInnen widersetzen sich dieser Logik. Sie argumentieren, daß es ein Verbrechen wäre, die Vorteile des Mediums nicht zu nutzen. Wo sonst bietet sich eine so gute Möglichkeit, sich den eigenen Vorstellungen entsprechend darzustellen? Ist ein Geschlecht zum Überstreifen wirklich etwas derart anderes als Kleidung oder Make-up? Ist das Verändern oder Verschleiern der Biologie wirklich unehrlich oder eher ein Ausdruck des eigenen Innenlebens? Und ist der menschliche Körper vielleicht nur ein kurioses Überbleibsel im Reich des textuellen Körpers?
Frauen als Männer bereiten Unbehagen
LJ Dempster, geborene Lisa, ist im Reich der Telekommunikation ein Neutrum, seit sie vor einem Jahrzehnt mit ihren Initialen ins Telefonbuch eingetragen wurde. „Die Leute wissen nicht, welche Haarfarbe ich habe, warum sollten sie also mein Geschlecht erfahren“, erklärt sie. Wenn Frauen wie LJ es schaffen, als Männer durchzukommen, fühlen sich einige der Herren im Datennetz unbehaglich. Frauen, die ihr neues Geschlecht als Schutzmantel gegen Belästigungen tragen, spielen ein gefährliches Spiel: Wenn ihr Schutzschild plötzlich weggerissen wird, werden sie viel heftiger bestürmt als jemals zuvor. Eine Frau aus Philadelphia, die vor kurzem auf dem Schwarzen Brett von Internet beim cross-dressing erwischt wurde, erhielt eine reale Vergewaltigungsdrohung von einem wütenden Mann. Er hatte ihren Wohnsitz mit Hilfe ihrer E-Mail-Adresse herausgefunden und sich auf die Lauer gelegt.
In anderen Systemen gehören Geschlechterverwirrspiele praktisch zum guten Ton. Mitspieler im LambdaMOO-System (das zur MUD-Gruppe gehört) können jedesmal, wenn sie einen Charakter schaffen, das Geschlecht frei wählen. Die Wahlmöglichkeiten: geschlechtslos, weiblich, männlich, beides, vielfältig, egoistisch, adelig. Die Mitspieler bleiben normalerweise beim Zwei-Parteien-System. Nur wenige gehen die fraglos unerotische Verpflichtung ein, eine sexuelle Dynamik von einer Position aus zu entwickeln, die sich jenseits der menschlichen Dialektik befindet. Wenn sich die Teilnehmer auf sexuelle Kontakte einlassen, müssen sie es im Glauben daran tun, daß ihr Partner das Geschlecht hat, das er/sie zu haben angibt, oder sie müssen, sogar noch radikaler, die Frage nach der wahren Identität ignorieren. Emily, eine eifrige MUDderin, ist in eine intensive Liaison mit einem schwulen Mann verstrickt; hin und wieder machen sie Sex. „Er denkt, im wirklichen Leben wäre ich ein Mann, der im MUD eine Frau spielt“, erklärt sie. „Als ich ihm einmal ,enthüllt‘ habe, daß ich ein Mann sei, fing er an, mir sein Herz auszuschütten.“ Emily meint jedoch, sich sicher sein zu können, daß er der ist, der er zu sein behauptet. Wahrscheinlich hat sie recht: Wenn man den überwältigend hohen männlichen Bevölkerungsanteil im Computerland berücksichtigt, ist es naheliegend, daraus zu schließen, daß ihr Liebhaber wirklich ein Mann ist. Dennoch, ihre beidseitige Bereitschaft zu glauben ist überraschend groß. Diese Verbindungen leben im Reich der narzißtischen Phantasie. Sie nehmen den Raum zwischen dem empfangenen Wort und dem projizierten Bild ein.
Das Modem als Ausweg zu neuen Konstruktionen
Für jene, die die Kategorie „Frau“ als metaphysisch zweifelhaft widerlegen, mag das Modem der Ausweg zu neuen sozialen Geschlechtskonstruktionen sein. Gibt es einen besseren Spielplatz, um mit diesen Strukturen herumzuexperimentieren, als einen Ort, wo das Geschlecht unsichtbar ist? Mit der vermeintlichen Mehrgeschlechtlichkeit als Eintrittskarte in der Tasche können Frauen ihnen ansonsten verschlossene Territorien betreten. Dennoch, zwischen den Geschlechtern hin- und herzuspringen kann auch bedeuten, die etablierten Geschlechterrollen zu akzeptieren und ihnen gegenüber sogar bis zu den posenhaft erstarrten Extremen nachzugeben, die der häufig plumpe Prozeß der Mimikry hervorbringt. Leute im „Fummel“ neigen zu Überkompensation durch die Betonung stereotyper Geschlechtscharakteristika. Dieses Phänomen verstärkt sich in der Computerkommunikation, weil die Charaktere als Aneinanderreihung normierter Eigenschaften entworfen werden: Statur, Augenfarbe, Bartwuchs, Brustumfang. Tatsächlich kann sich das Spiel mit den Geschlechtern eher zu einer Strategie der Irreführung als der Transparenz entwickeln. Wenn die teilnehmenden Parteien einvernehmlich die befreienden Möglichkeiten des Rollenspiels ausprobieren, ist das eine Sache. Eine ganz andere Sache ist es, wenn ein einsames Herz das ahnungslose Objekt im Spiel eines anderen wird. Trotzdem bestehen einige sex-switcher darauf, daß das Ziel – libidinöse Befreiung – ihre Mittel rechtfertigt und daß die Leichtigkeit, mit der sie überzeugend Identitäten konstruieren, demonstriert, wie sinnlos es ist, den Geschlechterdualismus überhaupt zu akzeptieren. „Es fällt mir ziemlich leicht, die Rolle eines schwulen Mannes zu spielen“, sagt Emily. „Das beweist, daß das alles fließend ist. Ich denke, das ist eine gute und richtige Sache. Im wirklichen Leben gibt es so viele Möglichkeiten, Leute zu täuschen. Warum soll gerade das Geschlecht so eine große Sache sein?“
Geschlechterspiele haben jedoch wenig Einfluß auf die irdische Sphäre. Das Computernetz ist aus gutem Grund als Grenzgebiet bezeichnet worden: Diese Elitedomäne bietet einen Ort, um den Dingen zu entfliehen, vor denen eine Menge Amerikaner davonlaufen wollen – Rasse, Klasse, soziale Verpflichtungen. Nicht jeder bekommt einen Ritt in dieses Gelobte Land angeboten, beziehungsweise sehnt sich danach, aufzuspringen. Für die Mehrheit der Frauen, die Computer benutzen, ist der Cyberspace ein Raum, in dem sie sich befinden, wenn sie Textprogramme benutzen oder Daten eingeben – eher ein Gefängnis als eine neue Welt.
Frauen, die das Privileg haben, aktive Technologieagentinnen zu sein, tragen eine besondere Verantwortung. Der Rückzug aus ihrem Geschlecht, vor allem, wenn es sich dabei um eine defensive Reaktion auf Belästigungen handelt, führt zur Verringerung ihrer Macht.
Sie verschwinden, statt präsent zu sein auf einem Feld, auf dem sie den Männern ohnehin zahlenmäßig unterlegen sind – auf eine Frau kommen ungefähr acht Männer. So, wie viele Frauen es verinnerlicht haben, nicht alleine im Dunkeln spazierenzugehen, haben sich einige entschieden, sich im Netz nicht als sie selbst zu bewegen, sei es als Reaktion auf ihre Ängste, sei es als Versuch, sich anzupassen. Das neue Paradigma sieht verdammt wie die altbekannte Selbstbestrafung aus.
Ganz nebenbei: Die Aussicht auf einen Cyberspace, wo die meisten Jungs wie Cindy Crawford und die Mädels wie Richard Gere aussehen, ist nicht nur scheußlich, sondern der Stoff für kulturpolitische Alpträume. Es muß mehr sein als ein technologischer Unfall, daß halbanonyme soziale Computerräume gemeinsam mit der Debatte um Geschlechteridentität entstanden sind. Trotzdem ist es nur eine Frage der Zeit, bis das heutige elektronische Paralleluniversum des Geschlechterwechselns der Stoff für die Nostalgie von morgen sein wird. Die anarchischen Möglichkeiten des Augenblicks könnten gut und gerne der Entwicklung einer rechtlich durchsetzbaren freien Identitätswahl Platz machen. Das Fenster der Möglichkeiten ist klein und die Herausforderung riesig: wie wir selbst unsere Identität definieren, bevor es andere für uns tun.
Alyssa Katz ist Redakteurin der „Village Voice“/New York
Aus dem Englischen von Sonja Schock
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