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Vom Lustdorf zur Boomtown

■ Ungeschönt: Eimsbüttler Promenaden zwischen Hinterhof und Hagenbeck

Eimsbüttel um 1900: In den Vorderhäusern lebten die „Herrschaften“, in den Hinterhofterrassen hausten die Armen. Arbeiter, Tagelöhner und kleine Handwerker teilten sich mit ihren Familien nicht selten nur ein einziges dunkles Zimmer. In nur wenigen Hamburger Stadtteilen trafen Arm und Reich auf so engem Raum so krass aufeinander. Vielschichtig daher das Leben eines Stadtteils, der in diesem Sommer hundert Jahre alt geworden ist.

Am 22. Juni 1894 wurde das ehemals ländliche „Lustdorf“ Eimsbüttel, ebenso wie St. Pauli und 14 weitere Vororte, von der Hansestadt einverleibt und kurzerhand zum Stadtteil erklärt. Nach der Reichsgründung von 1871 erlebte das Gebiet zwischen Sternschanzenpark und Eidelstedter Weg einen gewaltigen Bauboom, tausende Arbeiterfamilien zogen in die neuen Mietshäuser ein.

Das Buch Eimsbüttler Promenaden zwischen Hinterhof und Hagenbeck, der dritte Band der Projekt-Reihe „Eimsbüttler Lebensläufe“ des Schul- und Kulturausschusses Eimsbüttel, erzählt Einzelschicksale aus dem rasant gewachsenen Stadtteil. Zwölf Autoren geben einen plastischen Einblick in das Alltagsleben Eimsbüttels bis 1945. Den „Gang durch die Geschichte“ beendet der Schriftsteller Reimer Eilers mit poetischen Streifzügen, in denen Gegenwart und Vergangenheit verschmelzen.

In den Eimsbüttler Promenaden spiegelt sich große Geschichte im Alltag der so genannten Kleinen Leute: Um die Jahrhundertwende, im Zenit des Wilhelminischen Zeitalters, war Standesbewußtsein und glühender Nationalismus auf der Hoheluftchaussee virulent, die damals als Flanier-Boulevard mit großen Alleebäumen eine Art Hamburger Champs-Elysées war: „Nur Sozialdemokraten, Waschfrauen und Angsthasen schwitzen“, witzelte man abfällig im Bürgertum. Nur in den Amüsierlokalen, in denen es offensichtlich hoch herging, weichte der Modetanz „Cakewalk“ bornierten Standesdünkel auf; hier griffen sogar „junge Herren“ ans Dekolleté der Dienstmädchen. Der Erste Weltkrieg zerstob die im Kaiserreich genährten Illusionen der stabilen Ordnung, die bis 1914 blind obrigkeitsdenkend funktionierte.

Allerdings brachte auch die Weimarer Republik für die meisten Eimsbüttler nicht die erhoffte Besserung ihrer Lebensverhältnisse. Arbeitslosigkeit und Inflation brachten viele Menschen – wie überall in der Republik – an den Rand ihrer Existenz. In dem Bericht „Im Schanzenviertel 1925 bis 1933“ beschreibt Frieda Runge die Zustände: „Das für uns zuständige Wohlfahrtsamt samt Verteilungsstelle befand sich am Grünen Jäger. Lange Menschenschlangen warteten dort in Sechserreihen auf die Ausgabe der kläglichen Waren. Oft gab es Streit zwischen den Wartenden und den Verteilern, die nicht selten eine ziemlich überhebliche Art an den Tag legten.“ Ihr Fazit: „Von den Goldenen Twenties, wie diese Zeit genannt wurde, merkten wir nichts“. In den Aufzeichnungen Runges, gespickt mit Momentaufnahmen kindlichen Glücks, schwingt etwas Bleiernes mit, das leise ahnen läßt, wie sich das ehemals „rote Eimsbüttel“ innerhalb kürzester Zeit ins nationalsozialistische Lager hinüberziehen ließ.

Uwe Storjohanns Erinnerungen zum Jahreswechsel 1933/1934 stehen schon ganz unter dem geistigen Diktat der nationalsozialistischen Schergen. „Juden haben im Dritten Reich nichts mehr zu suchen“, hieß es in der braunen Propaganda, aber auch in den Köpfen vieler Eimsbütteler spukten solche Vorstellung umher. Erschütternd die Lebensgeschichte der Lehrerin Else Rauch, die an der Grundschule Lutterothstraße unterrichtete. Einer ihrer ehemaligen Schüler, Arthur Riegel, hat den qualvollen Weg dieser Frau, die jüdische Vorfahren hatte, von „Eimsbüttel ins Getto“, wo man sie in Litzmannstadt bei Lodz umbrachte, skizziert. Arthur Riegel hat, indem er der Lebensgeschichte seiner ehemaligen Lehrerin nachspürte, auch seine eigene Geschichte aufgearbeitet, die er – im kollektiven Gleichschritt einer ganzen Generation – nach dem Kriege verdrängt hatte. „Erst im Dezember 1992 wurde es für mich schrecklich quälende Gewißheit“, schreibt Riegel, als er die „ganze Wahrheit“ über das Schicksal seiner Lehrerin erfuhr. Herausgeber Jens Michelsen versammelte in dem Band kleine Stücke einer Geschichte von unten, die nicht in verklärende Nostalgie verfällt, sondern auch Licht auf die Schattenseiten des Stadtteils wirft. Insbesondere der Dialog zwischen kleinen privaten Welten und großen politischen Ereignissen, die in das Leben jedes einzelnen drangen, machen den Reiz von solcher „oral history“ aus. Dierk Jensen

„Eimbüttler Promenaden zwischen Hinterhof und Hagenbeck 1894 bis 1945“, Dölling & Galitz Verlag, 24,80 Mark

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