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22 Kilometer bis Sarajevo

Trotz UN-Sperrzone und Nato-Luftangriffen kontrollieren UN-Schutztruppen und bosnische Serben weiterhin alle Zufahrten zur bosnischen Hauptstadt  ■ Aus Pazarić Erich Rathfelder

Das Delta der Neretva ist heiß und sumpfig. Myriaden von Mücken stehen über dem Land und lassen jeden kurzen Aufenthalt zur Qual werden. In der flimmernden Luft, die über dem heißen Asphalt der Schnellstraße steht, ziehen schemenhaft Fischreiher ihre Kreise. Auf dem grünlichen Wasser der Flußarme reiht sich Hausboot an Hausboot. Mandarinenbäume zeugen von der Fruchtbarkeit des Bodens. Ohne den Lärm der Lastwagenmotoren wäre die Idylle vollständig. Eine letzte Rast wird gemacht, Öl und Wasser kontrolliert, die Reservekanister festgezurrt, die Reifen überprüft. Ab jetzt heißt es aufpassen, bald geht es nach Bosnien, ins Kriegsgebiet, nach Mostar und Sarajevo, wo den Menschen der Hungerwinter noch immer in den Knochen steckt. Oder in die kleinen Ortschaften, wo alles, vom Garn bis zu Schuhsohlen, von Ersatzteilen bis zum Bier, sehnlichst erwartet wird.

In Metković an der kroatisch- bosnischen Grenze kündigt der Stau eine sorgfältige Durchsuchung der Ladungen an. Es sind nicht bosnische Beamte, die hier am Werke sind, die Flagge über ihnen ist weiterhin kroatisch. Der von den westherzegowinischen Kroaten kontrollierte Teil Bosniens – die selbsternannte „Republik Herceg-Bosna“ – ist trotz der neu gebildeten „Bosniakisch-kroatischen Föderation“ praktisch an Kroatien angeschlossen. Sogar ein Bild des kroatischen Präsidenten Tudjman ist auf der bosnischen Seite angebracht. Und die „Zölle“ von zwei Prozent des Wertes einer jeden Ladung fließen nicht etwa nach Sarajevo, sondern in den westlichen Teil Mostars, wo die Verwaltung von „Herceg-Bosna“ liegt. „Die Kroaten verdienen einen dicken Batzen an dem Verkehr nach Bosnien“, flüstert einer der Fahrer leise. Schließlich hat er die Abfertigung noch vor sich.

Marian ist ein bosnischer Kroate aus Sarajevo, „ein Bosnier katholischen Glaubens“, wie er sagt. Mit seinem MAN will er Hilfsgüter in seine Heimatstadt bringen. Die Straße schlängelt sich entlang der Neretva, die an dieser Stelle träge durch die Ebene fließt, als die ersten Ruinen auftauchen. Die Mauern sind zerschossen, die Fensterhöhlen ausgebrannt. Immerhin sind einige Gärten bestellt, da und dort regt sich wieder etwas Leben. Hier bei Čapljina wurde der Krieg gleich zweimal geführt, zuerst 1992 gegen die serbischen Truppen, dann 1993 zwischen Kroaten und Muslimen. Diese hatten vor allem flußaufwärts auf der rechten Seite des Flusses ihre Siedlungsgebiete.

Heute ist die Umgebung von Čapljina von Muslimen „gesäubert“. Das gibt der Wirt im Café, wo ein Erfrischungstrunk die Beschwerden der Hitze vertreiben soll, ganz offen zu. „Ein Zusammenleben wird es nicht mehr geben“, sagt er, denn „wir Kroaten wollen unter uns sein“. Von Marian auf die drei nahen Konzentrationslager Heliodrom, Dretelj und Gabela und die Verbrechen der westherzegowinischen Miliz „Kroatischer Verteidigungsrat“ HVO angesprochen, dreht er sich nur stumm um. Für ihn, den „Bosnier katholischen Glaubens“, seien alle Bosnier gleichberechtigt, sagt Marian. „Es war Krieg, da passiert manches“, murmelt der Mann auf der anderen Seite der Theke nur. Die Rechnung wird in kroatischen „Kuna“ bezahlt.

Flußaufwärts wurde die Straße wieder hergerichtet. Der Schutt, die Barrikaden und die Autowracks sind an den Straßenrand geräumt. Und wieder stauen sich die Lastwagen, diesmal an einem Kontrollpunkt der UNO, von wo die Fahrzeuge in das von der bosnischen Regierung kontrollierte Gebiet hinüberwechseln dürfen. Auch im bosnisch-muslimischen Ostmostar sind die Straßen vom Schutt geräumt. Die Verwaltung funktioniert wieder, die Menschen flanieren, in den neu eröffneten Cafés und Läden wird als Zahlungsmittel nur die DM akzeptiert. Es sind keine Uniformierten mehr zu sehen. Die Truppen seien abgezogen, heißt es, sogar die Kommandantur sei nach Jablanica verlegt worden. Mit der EU-Administration scheint Sicherheit eingezogen zu sein.

Doch es sei eine trügerische Ruhe, erklären die Leute im Café, die Marian, den Kroaten, mißtrauisch beäugen. Erst als sie erfahren, daß er aus Sarajevo kommt und deutsche Hilfsgüter in seine Stadt fährt, lockert sich die Stimmung. „Sie müssen verstehen, mein Herr“, sagt einer, „daß wir verbittert sind.“ Daß es noch immer den muslimischen Bewohnern Ostmostars nicht erlaubt ist, ihr Territorium zu verlassen, sei ein Grund dafür.

Nur je hundert Menschen dürften täglich über die Neretva- Behelfsbrücke die Seite wechseln. Zudem seien muslimische Bewohner und Besucher auf der kroatischen Westseite nach wie vor gefährdet. Mehr als ein Dutzend von ihnen seien seit Beginn des Waffenstillstandes dort ermordet worden. Die Täter sind bis heute unbekannt. Hans Koschnick, der EU- Administrator, sei ein guter Mensch, aber die Kroaten blockierten alles, was die neue EU- Administration vorschlage. Selbst dem Bürgermeister des Ostens wurde kürzlich von kroatischen Polizisten der Zugang verwehrt.

Die mächtigen Mauern des Elektrizitätswerkes von Jablanica lassen den Fluß zum Stausee werden. Im Osten begrenzt der mächtige Bjelašnica-Bergzug das Hügelland, dessen aufragende Gipfel die Straße über Konjić hinaus in Richtung Sarajevo begleiten. In der 20.000-Einwohner-Stadt deuten über die Hauseingänge gelegte Balken und die Sandsäcke an den Fenstern an, daß die Menschen den Krieg noch nicht für beendet halten. Hier, im Schnittpunkt serbischer, kroatischer und bosnischer Truppen, sei es im letzten Jahr zu kuriosen Allianzen gekommen, erzählt Marian. Nach dem kroatisch-muslimischen Schisma „mieteten“ sich die kroatischen Streitkräfte kurzerhand serbische Panzer mitsamt ihren Besatzungen, um gegen die muslimisch-bosnischen Streitkräfte vorzugehen. „Ich habe damals eine Ladung nach Kiseljak fahren wollen. Die Reaktion der Muslimanen war wild, wenn die mich damals als Kroaten erkannt hätten, dann gute Nacht.“

Die meisten von Marians Landsleuten mußten die Region verlassen und vornehmlich nach Westmostar fliehen. Konjić sei jetzt fest im Griff der Muslime. Niemand wisse, wann die einheimischen Kroaten wieder zurückkehren könnten. „Wohl erst dann, wenn die vertriebenen Muslime nach Westmostar zurückzukehren in der Lage sind“, sinniert Marian vor sich hin.

Noch ist ein Paß zu überwinden, bevor das Städchen Pazarić passiert ist. Von dort aus kann das letzte und gefährlichste Stück des Weges nach Sarajevo, der etwa 30 Kilometer lange Paß über den Berg Igman, in Angriff genommen werden. Reihenweise stehen Lastwagen vornehmlich alter Bauart am Straßenrand. Manche kühlen ihre Füße in dem Bach, der das schmale, durch saftige Wiesen und Reihen von Obstbäumen durchzogene Tälchen durchläuft. Die Hitze des Sommers und der Anstieg haben die Temperatur der Motoren zu hoch steigen lassen. Doch der MAN hält den Anstrengungen stand, an einem Kiosk kauft Marian noch Erfrischungsgetränke und Mineralwasser ein. Fünf serbische Granaten seien am vergangenen Montag hier im Stadtzentrum niedergegangen, sagt die Verkäuferin. „Zwei Frauen seien getötet, eine schwer verwundet worden.“ Die serbischen Linien sind nur drei Kilometer entfernt.

Die Granaten seien aus der UNO-Schutzzone um Sarajevo, aus der Region Trnovo, gekommen, sagt ein Mitarbeiter des im Nachbarhaus untergebrachten Sanitätspostens. Eigentlich dürften die Soldaten dort nur noch 12,7- Millimeter-Flugabwehrwaffen haben. „Aber Sie sehen ja selbst“, und er deutet auf einen der Einschläge auf der Straße, eine Delle im Asphalt, von der aus deutlich sichtbar drei Schrapnells an die umliegenden Häuser schlugen. Am letzten Checkpoint stehen viele Leute, die bis nach Sarajevo mitgenommen werden wollen. Doch im Lastwagen ist nur noch ein Platz frei. Ein bosnischer Offizier kommt auf uns zu. „Sie wissen ja sicher, daß die Route wegen der Scharfschützen gesperrt ist“, sagt er, „wenn Sie dennoch fahren, so übernehmen wir keinerlei Verantwortung.“ Marian deutet ein Nicken nur an. Der Motor dröhnt, der LKW beginnt sich über den einspurigen Feldweg zu quälen.

Seitdem die anderen Zufahrtswege zur Stadt von serbischen Truppen gesperrt sind, ist diese Nabelschnur die einzige Verbindung zur Welt geworden. „Seit vierzehn Tagen wird wieder gehungert, viele haben zwar Vorräte, aber wie lange reichen die? Der dritte Winter steht vor der Tür, ich fürchte, den werden viele nicht durchhalten“, sagt der Anhalter, ein Lehrer aus Sarajevo, der nach einem Besuch bei Verwandten in die bosnische Hauptstadt zurückkehren will.

Die UNO habe nichts gegen die Sperrung der Stadt unternommen, beklagt er sich. Und daß die Nato- Jagdbomber vor zwei Wochen bei ihrer so hoch gespielten Aktion lediglich ein deutsches Panzerwrack aus dem Jahre 1943 vernichteten, sei doch ein unverschämtes Ablenkungsmanöver. „Nichts hat sich verändert, das Gewissen der Welt ist beruhigt. Und unsere Stadt ist so isoliert wie nie zuvor.“ Die Serpentinen führen steil den Berg hinauf, trotz der Abenddämmerung ist das unter uns liegende Hadžići gut zu erkennen. „Diese Stadt ist in serbischer Hand“, sagt unser Mitfahrer, „wenn wir die Leute sehen können, dann sehen uns ihre Scharfschützen auch.“ Und schon fallen Schüsse, der Lastwagen wird mehrmals getroffen. Marian gelingt es, ihn an eine geschützte Stelle zu bugsieren. Ein Hinterreifen ist zerfetzt, einige Einschußlöcher im Ladebereich sind zu sehen.

Bosnische Soldaten nähern sich und betrachten den Schaden. Ein Reifen sei zu wechseln, in der Nacht werde er weiterfahren, sagt Marian. Seine Passagiere aber will er nicht weitertransportieren. Bis zu den Rollbahnen des Flughafens von Sarajevo sind es noch 22 Kilometer. Das Gelände steht unter Kontrolle der UNO, doch diese tut nichts, um Hilfsgüter in die Stadt zu bringen. Statt dessen sollen die Waren durch den 700 Meter langen Tunnel getragen werden, der letztes Jahr unter dem Flughafen angelegt wurde. Der ein Meter vierzig hohe, ein Meter zwanzig breite Gang ist oftmals die einzige Verbindung Sarajevos zur Außenwelt. Immerhin: Am letzten Sonntag sollen die Verbindungswege wieder geöffnet worden sein. Fragt sich nur, wie lange.

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