■ Zu den Plutoniumfunden: Wo ist das Leck in Rußland?: Der Armee ist nichts heilig
Erst im Frühsommer schnappte der Sankt Petersburger „Föderale Gegenspionagedienst“ (noch vor kurzem KGB) einen Fleischer, der kleine Warenpröbchen hochangereicherten Urans auf den Wochenmärkten der nördlichen Hauptstadt feilbot. Er hatte sich insgesamt zwei Kilogramm dieses Stoffes von einem einschlägig tätigen Verwandten besorgen lassen. In einem normalen Eisenbahncoupé mit vielen Mitreisenden führte er das Zeug heim.
Erneut hat diesmal das russische Ministerium für Atomenergie abgestritten, daß jemals zur Waffenherstellung geeignetes radioaktives Material in Rußland gestohlen wurde. Bis vor kurzem galt diese Wortregelung des Ministeriums für alle radioaktiven Stoffe überhaupt. Bis Anfang dieses Monats der Direktor des FBI, Louis Freeh, anläßlich eines Moskau-Besuches der Befürchtung Ausdruck verlieh, internationale terroristische Banden könnten sich bald aus dem exsowjetischen Arsenal Atomwaffen zusammenbasteln, da antwortete erstmals nicht der Atom-Minister, sondern an seiner Stelle Rußlands Innenminister Jerin. Immerhin gab er zu, daß im Verlaufe des vergangenen Jahres etwa 50 Fälle von Diebstahl nuklearer Stoffe aus der russischen Atomindustrie untersucht wurden – aber bitte schön: für die Waffenproduktion sei da nichts dabeigewesen! Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht.
Gut, daß es ein paar Organisationen in Rußland gibt, die sich den Schlaf nicht leisten können. Dazu gehört der von allen Seiten angegriffene Ex-KGB, dem wir das Beispiel des Sankt Petersburger Fleischers verdanken. Dazu gehört auch die Staatliche Russische Atominspektion, die in ihrem letzten Bericht an Jelzin beklagte, die Führung der Atom-U-Boot-Flotte unternehme nicht einmal den Versuch, die elementarsten Sicherheitsvorkehrungen unter den Besatzungen und Hafenarbeitern durchzusetzen.
Nicht die Arbeitslosigkeit oder Unterbezahlung der AtomwissenschaftlerInnen stellt heute das größte Sicherheitsrisiko in Rußland dar. Denn diese Leute pflegen durch die Bank eine fast noch romantische Berufsethik. Es ist die Armee, bei deren oberen Chargen schon seit Jahrzehnten ein Menschenleben – vor allem wenn es das der eigenen BürgerInnen ist – so gut wie nichts zählt. Denn da geht es nicht um die Verteidigung des Vaterlandes, sondern um die Verteidigung des Schlendrians. Im Russischen nennt man das ein „Bardak“, ein Bordell. Wir wollen uns an dieser Stelle bei allen gut geführten Bordellen entschuldigen! Aber ein „Bardak“ ist nun mal ein Ort, an dem alles abhanden kommt, was „nicht gut liegt“. Und „nicht gut“ liegt alles, was allzu offensichtlich zum Mitgehenlassen einlädt. Und wenn's ein Fäßchen Plutonium ist. Barbara Kerneck, Moskau
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