: Vom Skandalurteil zum Verfassungsbruch
Gesunde Deckert-Richter werden krankgesprochen, damit man sich ihrer entledigen kann / Bloß: Die Verfassung der Bundesrepublik sieht eine Amtsenthebung von Richtern nicht vor ■ Von Julia Albrecht
In verzwickten Situationen ist die Suche nach pragmatischen Lösungen eine naheliegende Verhaltensweise. So hat das Präsidium des Mannheimer Landgerichts sich kurzerhand ihrer unliebsamen Richter Wolfgang Müller und Rainer Orlet entledigt und beschlossen: „Infolge dauernder krankheitsbedingter Verhinderung des Vorsitzenden Richters am Landgericht Dr. Müller übernimmt mit sofortiger Wirkung Richter Nusselt den Vorsitz der 1. und 6. Großen Strafkammer.“ Auch Orlet ist „dauerhaft verhindert“, und um seinen Ersatz werde man sich später kümmern.
Aber leider hat sich das Präsidium nicht hinreichend mit der Frage beschäftigt, ob diese Lösung auch dem geltenden Recht entspricht. Zwar sind in der empörten Öffentlichkeit Maßnahmen gegen die an dem Skandalurteil beteiligten Richter diskutiert worden. Allein – es mangelt an der rechtlichen Handhabe. Richter unterstehen allein den geltenden Gesetzen, sonst niemandem, keinem Vorgesetzen, keinem Dienstherrn, auch nicht den versammelten Richtern des Landgerichts Mannheim, die ihre eigene Haut und den guten (?) Ruf ihres Gerichts wahren wollen. Artikel 97 des Grundgesetzes: „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.“
Der Beschluß des Mannheimer Landgerichts, mit dem sie die Richter kurzerhand entfernt haben, widerspricht diesem rechtsstaatlichen Grundsatz. Sämtliche Maßnahmen, die gegen Richter vorgenommen werden können, sind im Grundgesetz oder im Deutschen Richtergesetz geregelt. Hinzu kommt die Möglichkeit, durch Umverteilung des Geschäftsverteilungsplans nach dem Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) Richter innerhalb eines Gerichts in andere Kammern zu versetzen. Dies darf aber nicht deshalb geschehen, weil ein Richter ein unliebsames Urteil gefällt hat. Sondern, im Laufe eines Geschäftsjahres, allein aus Gründen der Über— oder Unterbelastung eines „Spruchkörpers“ oder in Folge „dauernder Verhinderung“. Diesen Fall der dauernden Verhinderung hat das Präsidium des Mannheimer Landgerichts nun durch die Krankheit des Vorsitzenden Richters und seines Beisitzers konstruiert und hat damit die geltenden Normen umgangen. Es ist ein schwaches Zeugnis für ein Rechtssystem, wenn es nicht ertragen kann, daß eben auch hirnrissige Urteile ergehen. Ulrich K. Preuß, Professor für Verfassungsrecht an der Universität Bremen: „Der Beschluß zeigt, wie wenig die Rechtskultur in Deutschland gefestigt ist, wenn es einmal zu einer Krisensituation kommt. Auf den öffentlichen Druck hat das Präsidium dadurch reagiert, daß es ein Gesetz umgangen hat. Die Verfassung schützt nicht die Richter als Person, sondern in ihrer Funktion. Diese steht nicht zur Disposition des Gerichtspräsidenten.“
Die Unabhängigkeit der Richter ist ein hohes Gut und für eine Demokratie unabdingbar. Ohne die richterliche Unabhängigkeit blieben wir mit nur zwei Gewalten sitzen. Sie gewährleistet, zumindest wenn man sie im Sinn der Verfassung praktiziert, Unabhängigkeit nicht nur von einzelnen Dienstherren, sondern vor allem vor den wechselnden Winden der politischen Mehrheit. Könnten Richter abgesetzt werden, weil ihre Sprüche in den Augen ihrer Oberen nicht opportun sind, wären wir arm dran. Wichtige Gewährleistung übrigens, daß falsche Urteile aufgehoben werden, sind die mögliche Berufung beziehungsweise die Revision, die dem Deckert-Urteil hoffentlich blühen wird.
Als sich das Präsidium des Mannheimer Landgerichts auf die Suche nach Gesetzen machte, mit deren Hilfe sie die Richter würden entfernen können, ist ihnen notgedrungen nichts anderes eingefallen als die jetzige Pseudolösung. Denn wo immer man auch schaut, immer wieder stößt man auf den ehernen Grundsatz der Richterunabhängigkeit. Zum Beispiel im Richtergesetz. Dort heißt es in Paragraph 26, daß ein Richter einer „Dienstaufsicht nur insoweit untersteht, soweit nicht seine Unabhängigkeit beeinträchtigt wird.“ Versetzt werden kann ein Richter nur mit seiner Zustimmung beziehungsweise dann, wenn die Versetzung „im Interesse der Rechtspflege“ ist. Letztere Voraussetzung ist nur dann gegeben, wenn „Tatsachen außerhalb seiner richterlichen Tätigkeit eine Maßnahme dieser Art zwingend gebieten“. Schließlich gibt es gegen Richter noch ein „förmliches Disziplinarverfahren“, wobei aber im äußersten Fall ein „Verweis“ ausgesprochen wird.
Vor einer strafrechtlichen Anklage schließlich sind auch Richter nicht gefeit. Aber weder Müller noch Orlet werden sich wohl vor einem Kollegen verantworten müssen. Eine Verurteilung wegen Rechtsbeugung fällt schon deshalb flach, weil ihnen nicht nachgewiesen werden kann, daß sie vorsätzlich das Recht gebeugt haben. Immerhin haben sie den Rechtsextremisten verurteilt. Daß sie dabei vielleicht eine zu geringe Strafe ausgesprochen haben, hat mit Rechtsbeugung nicht viel zu tun.
Auch von einer Verurteilung wegen Volksverhetzung sollte man nicht leichtsinnig träumen. Liest man den Gesetzeswortlaut, dann scheinen zwar die inkriminierenden Passagen aus dem Urteil ganz gut zu passen. Aber man darf nicht vergessen, daß nicht wir die Gesetze auslegen, sondern Richter. Und die sehen die Voraussetzung des „Angriffs gegen die Menschenwürde durch Beschimpfung, böse Verächtlichmachung oder Verleumdung“ erst dann gegeben, wenn Menschen im „Kern ihrer Persönlichkeit getroffen, ihnen also das Lebensrecht in der Gemeinschaft bestritten wird oder sie als unterwertig behandelt werden sollen“. Es wird wohl kaum einen Richter in Deutschland geben, der unter diesen Voraussetzungen die in der Tat antisemitischen Sätze des Mannheimer Urteils als Volksverhetzung ahnden wird.
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