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„Der ideologische Weltkrieg läuft“

Neue Erkenntnisse zur Beteiligung der Stasi an der Niederschlagung des Prager Frühlings und der „Normalisierung“ – vorgelegt von der Forschungsabteilung der Gauck-Behörde  ■ Von Christian Semler

In der kurzen Zeit ihrer Existenz hat die Abteilung Bildung und Forschung bei der Gauck-Behörde schon mehrfach unter Beweis gestellt, daß mit ihrer Einrichtung sinnvoller Gebrauch von Steuergeldern gemacht wurde. Dieser Eindruck wird durch die neueste Veröffentlichung „Maßnahme Donau und Einsatz Genesung, die Niederschlagung des Prager Frühlings im Spiegel der MfS- Akten“ gestern von der Autorin Monika Tantzscher im Tschechischen Zentrum in Berlin vorgestellt, nachdrücklich unterstrichen. Die von ihr präsentierte Analyse, der sich ein Anhang von 22 Dokumenten anschließt, scheint um so bemerkenswerter, als die Aktenlage dünn und „Betroffenenberichte“ spärlich sind. Frau Tantzscher erstellte ihre Arbeit als Expertise für die Enquetekomission des Bundestages zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte. Ihr blieb also wenig Zeit und ein riesiger, ungeordneter Aktenberg. Die Autorin stützte sich hauptsächlich auf die Berichte der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe der Stasi, auf Befehle und Anordnungen der Zentrale und auf Gesprächsprotokolle „auf höchster Ebene“. Das heißt, sie wertete die administrative, nicht aber die „operative“ Seite der Stasi-Tätigkeit aus. Im Klartext: Wir erfahren viel über die schändlichen Absichten des Geheimdienstes, aber wenig über deren Verwirklichung. Die Ergebnisse sind dennoch durchweg erhellend, in einigen Fällen sogar sensationell.

Für die DDR-Führung war es nicht nur die Linientreue des wichtigsten Juniorpartners der Sowjetunion (gemäß der Devise: „Der Hund des Königs ist der König der Hunde“), der sie zum Vorbeller gegen die Prager Reformkommunisten werden ließ, Überlebensinteressen standen auf dem Spiel. Mit der Marxismus-Leninismus- Orthodoxie stand und fiel das Staatsgebilde DDR. Small wonder, daß bei der Stasi, als das Trommelfeuer der Warschauer Paktstaaten gegen den Prager Reformkurs einsetzte, hektische Aktivitäten ausbrachen. Das MfS konnte bei seinen Operationen auf „Operativgruppen“ in Prag, Bratislava und Karlovy Vary zurückgreifen, Stützpunkte, die in Absprache mit den Realsozialisten „vor Ort“ tätig waren. Diese Operativgruppen wurden nun angewiesen, mit linientreuen ČSSR-Funktionären in Verbindung zu treten, gegenüber den Reformern „Zersetzungsarbeit“ zu leisten und – vor allem – Informationen zu sammeln. Obwohl die Berichte dieser Gruppen noch nicht ausgewertet sind, kann doch vermutet werden, daß sie schon vor dem 21. August nach zuverlässigen einheimischen Kadern Ausschau hielten, die nach der (von der SED-Führung frühzeitig geforderten) Invasion das Rückgrat des „Normalisierungsprozesses“ abgeben sollten.

Zu den Hauptabteilungen, deren Emissäre nach Prag ausschwärmten, gehörte auch die Hauptverwaltung Aufklärung des Markus Wolf. Wolf stattete dem „revisionistischen“ Prag im Juni 1968 einen Besuch ab, der indiskreterweise von einer tschechischen Zeitschrift publik gemacht wurde. Er veranlaßte und unterzeichnete einen umfangreichen „Maßnahmeplan“ für die BRD und die ČSSR, der im Dokumentenanhang der Studie vollständig abgedruckt ist. Wolf mußte sich (aufgrund von Informationen aus der westdeutschen Regierung und dem BND) darüber im klaren sein , daß die westdeutsche Regierung gegenüber dem Reformprozeß fast übervorsichtig taktierte. Dennoch stimmte er in den Chor von der laufenden „ideologischen und ökonomischen Intervention der BRD“ ein. Gemessen an dieser angeblichen Gefahr verrät allerdings sein Maßnahmeplan – trotz der imponierenden Zahl für die ČSSR aufgebotener IMs – wenig Kohärenz. Hilflosigkeit oder Überzeugung, daß sowieso nur das Militär die Krise „lösen“ wird?

Frau Tanzschers Dokumente werfen über die Geheimdienst- Operationen hinaus auch neues Licht auf die Frage einer direkten militärischen Beteiligung der Nationalen Volksarmee an der brüderlichen Hilfsaktion des 21.8. So gern die DDR-Führung mitgemacht hätte, die Dokumente zeigen, daß sie nur absichern und logistisch unterstützen durfte. Der NVA oblag die Sperrung der südlichen Grenzbezirke der DDR und die Sistierung ausländischer Transitreisender. Die Dokumentensammlung enthält einen instruktiven Bericht des Stabschefs der Invasionsarmee, aus dem erstmals nicht nur die Zahl der sowjetischen Verluste hervorgeht, sondern in dem auch über bewaffnete tschechische Widerstandsaktionen berichtet wird. Offensichtlich hat sich die Linie des gewaltlosen Widerstandes erst in den Tagen nach der Invasion durchgesetzt.

Es war aber gerade dieses Prinzip der Gewaltlosigkeit, das der Stasi nach der Invasion die größten Kopfschmerzen bereitete. Unaufhörlich wird in den Direktiven und Befehlen über die fortdauernde Wühlarbeit der „Revisionisten“ geklagt, eine neue Zuspitzung der Krise an die Wand gemalt, werden energische „Normalisierungsmaßnahmen“ gefordert und die tschechoslowakischen Kollegen ohne Unterlaß belehrt. Klassisch faßte Erich Mielke in einer gemeinsamen Konferenz mit dem KGB das Ausmaß der Gefahr zusammen: „Der Feind hat bereits einen dritten ideologischen Weltkrieg in der vierten Dimension eröffnet.“ Endlich, nach dem erzwungenen Rücktritt Dubčeks, begann der Weizen des MfS zu blühen. Schon die in Frau Tanzschers Studie abgedruckten Dokumente beweisen, daß die Stasi bei der Säuberung des Staats-, insbesondere des Sicherheitsapparats der ČSSR eine Vorarbeit geleistet hat, die schwerer ins Gewicht fällt als die – unterbliebene – direkte militärische Beteiligung an der Invasion.

Schließlich sind die Dokumente hilfreich für die Erforschung der Geschichte des demokratischen Widerstands in der DDR. Der 21. August bildete für viele Intellektuelle die Wasserscheide zwischen dem Glauben an die Reform „von oben“ und der Einsicht in die Notwendigkeit des Widerstands „von unten“. Einem Bericht der Hauptabteilung iX des MfS kann man nun die exakte Zahl der Ermittlungsverfahren gegen DDR-Bürger wegen Unterstützungsaktionen zugunsten der Prager Reformer entnehmen – 504. Das Gros der Verhafteten bildeten Arbeiter und Lehrlinge, aber die hohe Zahl der Studenten und Intellektuellen frappierte nicht nur die Stasi, sondern auch den Leser von heute. Die SED-Führung sorgte für gnadenlose Verfolgung selbst geringster Unmutsbezeugungen und für terroristische Strafmaße. Es wäre zu wünschen, daß diesen couragierten Bürgern eine späte Anerkennung zuteil wird – und sei es nur in Form einer sorgfältigen Studie der Abteilung Bildung und Forschung der Gauck-Behörde.

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