: Schlichte Liebeskalligraphie
1985 in der DDR gedreht, jetzt wieder zu sehen: Wieland Specks Film „Westler“ ■ Von Thorsten Schmitz
Erst dachte ich, ich sitze im falschen Film. „Westler“ spielt doch eigentlich in Berlin?!? Die ersten Sequenzen aber beginnen zehn Flugstunden westlich vom Alexanderplatz. In Los Angeles. Ein Berliner und ein Amerikaner flitzen im offenen Chevrolet die Highways rauf und runter, Hochhäuser säumen ihre Spritztour. Gleißend das Sonnenlicht, und nachts glitzert die Energiemaschine L.A. wie Christbaumschmuck.
Was Wieland Speck mit diesem Trompe-l'oeil beabsichtigte, bleibt für immer ein Rätsel. Frappanter allerdings könnte der Kontrast zwischen West und Ost nicht ausfallen. Eben noch die profitable Beton- und Smogkapitale, die Ikone des Kapitalismus. Plötzlich, Schnitt, mausgraue SED-Einheitsarchitektur, als die Mauer noch keine Risse aufwies und sächselnde Volkspolizisten ihre Freude am Wessi-Schikanieren hatten.
Frontstadt Berlin, anno 1985. Felix (Sigurd Rachmann) löst hauptberuflich und per Knopfdruck Gewitter aus in einem drittklassigen Hinterhoftheater. Nur wenn er Besuch aus Übersee kriegt, wagt er, via Friedrichstraße, den Schritt in den exotischeren Teil der Stadt. Mit Sonnenbrillen gewappnet, erkunden er und seine Bekannten die fremde, seltsame Welt der Hauptstadt der DDR. Kaufen mit ihrem Tagesgeld sozialistischen Schund, stillen ihren Hunger mit pappiger Currywurst und genießen die demütigende Einreiseprozedur.
Unter der Weltzeituhr am Alexanderplatz läuft ihnen Thomas (Rainer Strecker) über den Weg, ein Potsdamer Beau mit blondem Wuschelkopf und sinnlichen Lippen, der mit Felix scheu blickflirtet.
Wieland Speck erzählt eine Geschichte vom grenzüberschreitenden Verkehr, wie Felix und Thomas sich behutsam beschnuppern. Und wie – diese Plattitüde muß erlaubt sein – auch Männerliebe Mauern sprengen kann. Pardon: konnte. Spannend wird der Film, gerade aus heutiger Sicht, wenn Specks versteckte Kamera an Originalschauplätzen (Flughafen Schönefeld, Unter den Linden, Prenzlauer Berg) die zwei Turteltauben verfolgt. Speck drehte ohne Genehmigung, und so sind diese Szenen in Ost-Berlin stumm, nur mit Musik unterlegt.
An diesen Stellen besitzt der Film, der weltweit auf 13 Festivals lief und 1986 mit dem Max- Ophüls-Preis ausgezeichnet wurde, beklemmende Authentizität. Die Kamera wackelt wie bei einem Homemovie, die Bilder sind wurmstichig und viel zu grell, in Straßenbahnen erkennt man fast nichts, weil der Ausleuchter fehlte.
Wer „Westler“ anschaut, kann noch einmal tief DDR-Mief und -Muff einatmen, der Film berichtet auch aus einer inzwischen verschwundenen Welt. Selbst die FAZ geriet in den Bann der unwirklichen Wirklichkeit: „Die geteilte Stadt Berlin erhält eine unwirkliche, fremde Atmosphäre, als wären wir in Hongkong oder Singapur. Man fühlt sich in die Rolle eines Zoobesuchers versetzt, den man bestaunen läßt, unter welchen Bedingungen irgendwelche Wesen in einer ganz anderen Welt leben.“
Es liegen Lichtjahre zwischen den beiden Protagonisten – und sie verstehen sich doch. Felix lebt in einer überemanzipierten Männer-WG, einer gockelhafter als der andere. Thomas improvisiert jeden Tag aufs neue in seiner Ein-Raum- Wohnung, wie sich auf zwanzig Quadratmetern schlafen, rasieren, Zähne putzen und Wäsche waschen läßt.
Einmal sagt Felix: „Manchmal frage ich mich, ob ich diese ganzen Komplikationen brauche.“ Und tatsächlich ist es abenteuerlich, wie viele Hindernisse die beiden überwinden, um für vier Stunden die Welt zu vergessen. Um zu Nina- Hagen-Musik zu tanzen („Ich bin da nicht pingelig, wenn ich dich brauch', dann klingel' ich“) und in Fotoalben zu schmökern. Um Mitternacht, es kann noch so kuschelig sein, sprintet Felix jedesmal aus dem Bett, zur letzten Bahn in den Westen. Bald nervt ihn das: eben noch in Thomas' Armen, kurz darauf allein im Bett, ohne Körperkontakt, oder in der Bar, wo Zazie de Paris ihn trösten wird.
Auch für Thomas hat das mauerbedingte Hin und Her etwas Zermürbendes. Als man ihn zum Schweinehälften-Schleppen in ein Fleischkombinat abordnet, steht spätestens jetzt für ihn fest: Überall kann es besser sein, nur nicht hier, in der DDR.
In Gedanken haben beide schon alle Möglichkeiten der Freundeszusammenführung durchgespielt: Heißluftballon und Tunnel graben. Sie gehen dann aber doch auf Nummer Sicher, das heißt nach Prag. Dort treffen sie einen Fluchthelfer namens Pawel. Er arrangiert das Treffen mit einem Schleuser, morgens um vier auf der Karlsbrücke.
Mit einem Fragezeichen endet der Film. Ob's geklappt hat, erfährt man nicht. Ob die beiden, in West- Berlin, zum Traumpaar avancierten – who knows. Aber das ist auch gar nicht wichtig. Wichtig allein ist: Wieland Speck hat einen bemerkenswert unprätentiösen Film gedreht. Eine schlichte Liebeskalligraphie, die nicht vor Kitsch trieft. Thorsten Schmitz
„Westler“, Regie: Wieland Speck, D 1985, läuft bis zum 1.9. täglich um 23 Uhr samstags und sonntags zusätzlich um 0.30 Uhr im Moviemento, Kottbusser Damm 22, Kreuzberg.
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