piwik no script img

Von der Nazi-Diktatur übernommen

■ betr.: „Flüchtlingssprecher im Amts-Visier“, taz vom 9.8.94

Der Neusser Oberkreisdirektor hat gegen Michael Stoffels, Sprecher des Neusser Flüchtlingsrates, ein Verfahren wegen Verstoßes gegen das Rechtsberatungsgesetz eingeleitet. Stoffels hatte die Abschiebung eines mehrfach behinderten Romajungen als „die mit Abstand fremdenfeindlichste Tat im Kreis Neuss“ gegeißelt.

Hierzu ist zu bemerken, daß das eingeleitete Verfahren wegen Verstoßes gegen das Rechtsberatungsgesetz durchaus im Sinne desjenigen Gesetzgebers ist, der dieses Gesetz erlassen hat. Dieser Gesetzgeber war: die Hitler-Regierung (die nach dem Ermächtigungs-Gesetz vom 23.3.33 fast alle Gesetze als Kabinettsgesetze allein erließ). Nach dem „Gesetz zur Verhütung von Mißbräuchen auf dem Gebiete der Rechtsberatung“ vom 13.12.1935 darf „die Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten (...) geschäftsmäßig – ohne Unterschied zwischen haupt- und nebenberuflicher oder entgeltlicher und unentgeltlicher Tätigkeit“ nur noch von Personen mit behördlicher Erlaubnis betrieben werden. Die Rechtsberatung war bis dahin nicht behördlich reglementiert. Rechtsanwälte wurden im „2. Gesetz zur Änderung der Rechtsanwaltsordnung“ von ebendemselben 13.12.35 verpflichtet, nach ihrer Zulassung zu schwören, „dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes Adolf Hitler die Treue zu halten“. (Art. I § 19) Hier werden die damals angelegten Maßstäbe von Gebrauch und Mißbrauch auf dem Gebiet der Rechtspflege recht deutlich. Für die Rechtsberatung bestimmt § 5 der Ausführungsverordnung (vom 13.12.35): „Juden wird die Erlaubnis nicht erteilt“. Dieser antijüdische Paragraph wurde nach dem Kriege von den Besatzungsmächten außer Kraft gesetzt. Die Bundesrepublik hat die Einführung einer Genehmigungspflicht für Rechtsberatung durch Nichtjuristen von der Nazi-Diktatur übernommen – relativ lautlos: durch Anwendung (?) von Grundgesetz Art. 123 Abs. 1 – „Recht aus der Zeit vor dem Zusammentritt des Bundestages gilt fort, soweit es dem Grundgesetz nicht widerspricht.“ – wurde das Rechtsberatungsgesetz in die Sammlung des Bundesrechts aufgenommen. Behinderte Menschen, Sinti, Roma, Juden, „Asoziale“ und andere mißliebige Menschen galten dem 1935 amtierenden Gesetzgeber bekanntlich als „Volksschädlinge“ und waren so schon damals im Amts-Visier und sollten durch die mit der Genehmigungspflicht verbundene Überwachung daran gehindert werden, als Beratene, als Beratende bzw. als Selbsthilfe Organisierende Nutzen aus einer Rechtsberatung zu ziehen. (Das Bundesverfassungsgericht hat sich in einer Entscheidung vom 5.5.87 mit dem Rechtsberatungsgesetz befaßt; der Nazi-Charakter des Gesetzes war ihm nicht der Rede wert.)

Laut Frankfurter Rundschau vom 18.6.94 – „Ohne Beratung sind viele Sozialhilfeempfänger aufgeschmissen“ – fordert das Wuppertaler Sozialamt vom Sozialhilfe-Beratungsverein „Tacheles“ eine Bescheinigung des Landgerichts, damit die Initiative ihre Mitglieder vertreten darf. Das Abwimmeln lästiger Antragsteller auf dem Sozialamt ist in der Tat auch eine Gesetzesanwendung im Sinne des seinerzeitigen Gesetzgebers. Gerd Ribbert, Marburg

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen